Enrico Perocchio, der 51jährige Betriebsdirektor der Seilbahn Stresa-Alpino-Mottarone, wurde in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch dieser Woche zusammen mit dem Geschäftsführer der “Ferrovie del Mottarone” Luigi Nerini und dem Cheftechniker Gabriele Tadini verhaftet. Laut Angaben der Staatsanwaltschaft haben sie gestanden von der absichtlichen Manipulation der Notbremsen an der verunglückten Seilbahnkabine gewusst zu haben. Perocchio weist diese Vorwürfe jedoch zurück. Sein Mandant sei “ein äußerst gewissenhafter Ingenieur”, betonte sein Anwalt Andrea Da Prato. Perocchio, der als externer Berater für die Betreibergesellschaft in Stresa "Ferrovie Mottarone" die Position des Betriebsdirektors innehatte, ist freiberuflich und nicht als Angestellter auch für die Firma Leitner tätig.
"Er hat die verschiedenen Eingriffe der letzten Monate rekonstruiert und kann den Bruch des Zugseiles nicht nachvollziehen, auch vor dem Hintergrund der Berichte jener Unternehmen, die Kontrollen an den Seilen durchgeführt haben, immer mit positivem Ergebnis", so der Anwalt weiter. Der Anwalt sagt, dass Perocchio "von den Carabinieri als informierte Person über den Sachverhalt vorgeladen wurde und gegen Mitternacht die Carabinieri-Kaserne in Stresa erreichte. Er wurde von niemandem einvernommen, bis er um 3 Uhr morgens über seine Verhaftung informiert wurde." "Jemand wird die Verantwortung für das übernehmen, was dieser den Ermittlern gesagt hat", fügte Da Prato hinzu, der die Inhaftierung seines Mandanten als "überraschend" bezeichnet: "Ich frage mich, wie man von einer Fluchtgefahr als Rechtfertigung für die Verhaftung ausgehen kann, wenn der Betreffende selbst darum gebeten hatte, als eine über den Sachverhalt informierte Person angehört zu werden?", so Perocchios Anwalt.
Informationen über den Wartungszustand der Seilbahn hat auch der Seilbahnbauer Leitner. Bereits einen Tag nach dem Unglück hatte das Sterzinger Unternehmen über eine Pressemitteilung eine Liste mit den verschiedenen Wartungsarbeiten für die Seilbahn Stresa-Alpino-Mottarone veröffentlicht.
Nachstehend der genaue Wortlaut der Aussendung:
"In Zusammenhang mit dem tragischen Seilbahnunglück, welches sich gestern (Anm. d. R.: 23.05.) an der Seilbahn Stresa-Mottarone ereignet hat, gibt Leitner auf Basis der unternehmensinternen Unterlagen sowie der internen Prüfungen die Liste der in den letzten Monaten durchgeführten Kontrollen und Wartungen bekannt. Diese entsprechen den Anforderungen der geltenden Gesetzgebung und basieren auf dem mit der Betreibergesellschaft „Ferrovie del Mottarone“ abgeschlossenen Wartungsvertrag:
Die täglichen und wöchentlichen Kontrollen, welche die Betriebsvorschriften sowie die Bedienungs- und Wartungsanleitung vorsehen, liegen in der Verantwortung des Betreibers.
Das Unternehmen Leitner ist zutiefst erschüttert und drückt den Angehörigen der Opfer sein aufrichtiges Mitgefühl aus. Gemeinsam mit den eigenen Technikern steht man zur vollsten Verfügung, um die Ursachen für diese schreckliche Tragödie zu ermitteln."
Wie bekannt wurde war die Seilbahn seit ihrer saisonalen Schließung im November 2020 und der coronabedingten Schließung im Frühjahr bereits seit dem 26. April 2021 wieder in Betrieb. Bereits zu diesem Zeitpunkt schon, erklärte die ermittelnde Staatsanwältin Olimpia Bossi, hätte man mittels Spreizgabeln die Notbremsen außer Betrieb gesetzt, zumal die Seilbahnanlage schon zu diesem Zeitpunkt technische Störungen aufwies. "Es hat sich um eine 'absolut absichtliche' Entscheidung gehandelt, um den Betrieb der Seilbahn aufrecht zu erhalten", bestätigte Staatsanwältin Bossi gegenüber Medien. Die Gabel zum Außerkraftsetzen der Notbremse sei am Sonntag sicherlich nicht zum ersten Mal eingesetzt worden. Die Seilbahn hatte schon seit eineinhalb Monaten Probleme. "Es gab eine Störung an der Seilbahn, das Beförderungsteam hat das Problem nicht oder nur teilweise gelöst. Um die Verbindung nicht zu unterbrechen, entschieden sie sich, die 'Gabel', die verhindert, dass die Notbremse in Kraft tritt, an Ort und Stelle zu lassen", bestätigte auch Albert Cicognani, der Kommandant der Carabinieri von Verbania. In ihrer Online-Ausgabe spricht die Tageszeitung "Corriere della Sera" sogar von einem "russischen Roulette", welches die Verantwortlichen für die Manipulation bei jeder Fahrt wissentlich in Kauf genommen haben, um weitere Betriebsunterbrechungen nach der Pause aufgrund der Corona-Pandemie zu vermeiden. Nicht ausgeschlossen wird, dass Ermittlungen gegen weitere Personen aufgenommen werden könnten.
Die Festgenommen müssen sich wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung, wegen schwerster fahrlässiger Körperverletzung zulasten des Fünfjährigen, der als einziger das Unglück überlebt hat, sowie wegen mutwilliger Manipulation von Schutzeinrichtungen an Maschinen verantworten, die letztendlich zu einer Katastrophe geführt hat. Im Visier der Ermittler steht nun die Frage warum das Zugseil brach. Ersten Medienberichten zufolge hatte das Zugseil ein Alter von 20 Jahren und wurde auch bei den umfassenden Sanierungsarbeiten im Jahr 2016 nicht ausgetauscht. Die vom Gericht zu beauftragenden Sachverständigen werden das geborstene Seil auf Beschädigungen und Verschleiß untersuchen. Auch wird geklärt, ob ein starkes Gewitter am Vortag einen Einfluss auf die Beständigkeit des Seils hatte. Laut Medienberichten könnte ein Blitzschlag während des Gewitters das Zugseil in Mitleidenschaft gezogen haben.
Inzwischen hat sich der Zustand des einzigen Überlebenden gebessert, einem fünfjährigen Buben, der mit mehreren Frakturen in einem Krankenhaus in Turin liegt. Der Israeli, der bei dem Unglück seine Eltern, seinen zweijährigen Bruder und zwei Urgroßeltern verlor, komme schrittweise zu sich und sei nicht mehr intubiert, teilte Klinik-Chef Giovanni La Valle mit. Die Leichen der verstorbenen Angehörigen des Buben wurden am Mittwoch zum Mailänder Flughafen gebracht, um nach Israel überführt zu werden. Dort sollen die Opfer beigesetzt werden.