Ein Essay von Selma Mahlknecht über Reisen in die Berge

Der Traum von den Alpen –Ein Alptraum?

Die Alpen sind ein fragiles Gebilde, der Klimawandel macht sich hier stärker bemerkbar als anderswo. So auch der sogenannte  "Overtourism": Wieviel Tourismus vertragen die Alpen? Die Autorin Selma Mahlknecht analysiert in ihrem Essay unsere Sehnsucht nach unberührter Natur, unsere Faszination für die Berge und unser anscheinendes Grundbedürfnis nach Urlaub. Sie hinterfragt die vielfältigen Zusammenhänge zwischen heimischer Wirtschaft und Tourismus. "Berg and Breakfast" ( erschienen bei Edition Raetia) ist eine Anregung zum Nachdenken, wie wir in Zukunft die Alpen erleben wollen und können. Fragen, die gerade nach der Corona - Pandemie gestellt werden müssen.

Die Autorin Selma Mahlknecht analysiert in ihrem Essay unsere Sehnsucht nach unberührter Natur, unsere Faszination für die Berge und unser anscheinendes Grundbedürfnis nach Urlaub.

"Flugscham? Überlasse ich getrost Greta Thunberg und anderen freudlosen Gestalten. Ich will endlich wieder mein Leben genießen, nachdem mir die Pandemie so viel weggenommen hat." So bringt Mahlknecht das Bedürfnis vieler auf den Punkt. Und wer aus Gewissensgründen oder einem Gefühl der Unsicherheit bei entfernteren Reisezielen auf die Flugreise verzichtet, kann ja in die Alpen fahren. Doch intensiver Tourismus generiert Konsumkulissen: Die Landschaft, die Architektur, die Gastronomie ordnen sich dem unter. Die Auswüchse sind allenthalben sichtbar: Ballermann in den Bergen, Sandstrand auf 1.500 Höhenmetern, zu jedem Gipfel führt ein Skilift, ehemalige Bauernhäuser wurden und werden zu Jumbo-Chalets aufgeblasen. Es wäre nun einfach, all diese Tendenzen zu verteufeln. Es wäre auch einfach, sich selbst als mögliche/n Verursacher/in dieser Entwicklung auszunehmen, da ja nur "Touristen" dafür verantwortlich wären, während man sich selbst ja eher als kultivierte/n "Reisende/n" sieht.

Selma Mahlknecht räumt mit dieser Differenzierung auf: Den Touristen unterscheidet wenig vom Reisenden: "Es ist ein Wesenszug des Reisens, dass man seinem Urlaubsort mehr nimmt, als man gibt. Dass manche Arten des Reisens ausbeuterischer, oberflächlicher und schädlicher sind als andere, ist zwar zutreffend, aber das Prinzip bleibt gleich: Man ist in erster Linie Verbraucher von Ressourcen, Infrastruktur, Kultur und Natur, hat aber keinen eigenen kreativen oder produktiven Anteil daran. Man ist ein Fremdkörper, der sich in ein Umfeld einkauft, zu dem er abgesehen von Geld nichts beiträgt."

Doch gerade in der Pandemie hat sich in vielen Ländern die "Systemrelevanz" des Tourismus für die Wirtschaft gezeigt. Fehlen die Gäste, hat auch der heimische Tischler weniger Aufträge und die dirndlbekleidete Kellnerin aus der Slowakei hat keinen Job. So absurd das Rollenspiel zwischen Gast, Gast-Arbeiter/in und Gastgeber/in oft ist, die Wirtschaft und das individuelle Bedürfnis nach Ausbruch aus dem schnöden Alltag werden auch in Zukunft den Motor Tourismus heiß laufen lassen.

In ihrem "Panorama der touristischen Sehnsüchte und Ernüchterungen" spannt die Autorin den Bogen von Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux als Suche nach Läuterung, über die nationalsozialistischen "Kraft durch Freude"-Urlaube hin zur Digitalisierung mit maßgeschneiderten Individualangeboten: "Zum Paradiese mögen Algorithmen dich geleiten." Eingeteilt in fünf Kapitel, die nach typischen Hotel-Namen benannt sind und der Sterne-Logik der Tourismusstandardisierung folgen, analysiert Mahlknecht mit spitzer Feder, lässt am Ende eines jeden Kapitels in Porträts Menschen zu Wort kommen, die vom Tourismus leben oder sich mit dem Phänomen beschäftigen:

Dominik Siegrist (CH), Professor und Leiter des Kompetenzzentrums Infrastruktur und Lebensraum, Blogger Simon Raffeiner (D), die Serfauser Hotelierin Nicole Heymich (A) vom Kinderhotel Bär, Tourismus-Historiker Hans Heiss (I) von der Universität Innsbruck und Christine Plüss (CH) vom Arbeitskreis "fair unterwegs".

Die Autorin

Selma Mahlknecht ist Schriftstellerin und Theaterfrau und lebt im Engadin (CH). Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie schreibt u. a. für das Reiseblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Bei Edition Raetia u. a. "Das Weihnachtskänguru" (2017), und die Romane "Helena" (2010, ausgezeichnet mit dem Sir-Walter-Scott-Preis), "Es ist nichts geschehen" (2009, übersetzt ins Schwedische).

VOX News Südtirol / nb