"Ich befinde mich nun wirklich in einem neuen Lande, in einer ganz fremden Umgebung". So schreibt Johann Wolfgang von Goethe, als er am 12. September 1786 den Gardasee erreicht. Parallel zur großen Sonderausstellung "Goethes Italienische Reise. Eine Hommage an ein Land, das es niemals gab" im Ferdinandeum in Innsbruck stellen die Tiroler Landesmuseen und das Museo Alto Garda eine Werkauswahl aus ihren Sammlungen aus, welche, im Austausch mit einzelnen italienischen Positionen, eine Auseinandersetzung mit der Landschaft, die das MAG seit einigen Jahren vorantreibt, erneuert und erweitert.
Eine neue Lesart von Goethes Italienischer Reise, die zwischen September 1786 und Juni 1788 erfolgte, doch erst zwischen 1813 und 1817 literarisch aufgearbeitet wurde, eröffnet eine besondere Betrachtung der Landschaft in der Kunst vom Ende des 18. Jahrhunderts bis heute. Die Ausstellung beleuchtet einen Aspekt der Reise, dem bisher wenig Beachtung geschenkt wurde: die Entdeckung der Landschaft als Ort der Selbsterkenntnis.
Nach einem einleitenden Raum, der auf die Bedeutung einer melancholischen Haltung vor der Landschaft im 18. Jahrhundert hinweist, setzt sich die Ausstellung in chronologischer Reihenfolge mit der Landschaft in der Kunst auseinander, mit besonderem Augenmerk auf Künstler und Künstlerinnen, welche auf die Arbeit ihrer Vorgänger*innen kritisch Bezug nehmen. Druckwerke und Zeichnungen aus dem 19. Jahrhundert werden mit aktuellen Positionen in Verbindung gebracht und beweisen die Relevanz älterer Perspektiven für die Wahrnehmung der Landschaft bis heute.
Die Farben sind Protagonisten der Zeit um 1900 bis in die 1960er Jahren. Sie spielten eine zentrale Rolle in der Erkennung der Korrespondenz zwischen Innen- und Außenwelt, wie es sich in den Werken von Artur Nikodem und Gerhild Diesner feststellen lässt.
Die letzten Räume der Ausstellung sind der Recherche von seit den 1970er Jahren bis heute tätigen Künstler*innen gewidmet, welche sich zwar mit Landschaft auseinandersetzen, diese jedoch nicht primär als künstlerische Gattung sondern als Sujet bzw. Subjekt analysieren und eine Reflexion über die Position und die Verantwortung der Menschen in dessen Nutzung erschließen.
Die Ausstellung "A Sentimental Landscape. Die Erfindung der Landschaft nach Goethe", die von Rosanna Dematté (Tiroler Landesmuseen) kuratiert wurde, wurde am Freitag 14. August im Museum in Riva del Garda eröffnet und kann bis 8. November 2020 besucht werden, dem letzten Öffnungstag vor der Herbstpause vom Museo Alto Garda.
"A Sentimental Landscape ist weniger eine Ausstellung über nordische Perspektiven auf den Gardasee", stellt die Kuratorin fest: "Vielmehr ist sie eine gemeinsame Betrachtung über die Landschaft in der Kunst und wie diese Kunstgattung uns das Begreifen und Tolerieren von unterschiedlichen Weltanschauungen beigebracht hat. Die Arbeit der zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler weist darauf hin, dass ein 'sentimentaler' Umgang mit der Landschaft auch in unserer Zeit gültig ist, von dem Moment an, in dem sie uns drängt, auf ihre Zerbrechlichkeit zu achten, sie zu respektieren und zu schützen."
Der Ausstellungstitel ist an den Roman "A Sentimental Journey" (Empfindsame Reise) des Schriftstellers und Goethes Zeitgenossen Laurence Sterne angelehnt. "Sentimental" umfasst dabei den Widerstand gegen die intellektuelle Vormacht der Vernunft, das Ausloten der Rolle von Sinnlichkeit und Introspektion, aber auch eine ironische Kritik der vielen Reisebuchautorinnen und -autoren, die eine neutrale Beschreibung der entdeckten Landschaften für ihre Werke beanspruchten.
Ausgehend von Werken aus dem 18. und 19. Jahrhundert wagt die Ausstellung einen umfassenden Diskurs über die künstlerische Konstruktion der Landschaft, den Bruch mit Stereotypen im 20. Jahrhundert und die bewusste individuelle Auseinandersetzung von Künstlerinnen und Künstlern der Gegenwart. "Im 18. und 19. Jahrhundert entwickeln sich die Stereotypen, die unsere Wahrnehmung der Landschaft bis heute bestimmen. Wir sind von Landschaften fasziniert, die uns berühren können", setzt die Kuratorin Rosanna Dematté fort. "Der Titel 'A Sentimental Landscape' (Eine empfindsame Landschaft) soll auch als Provokation verstanden werden bzw. als Einladung, über eine solche Erwartung auf die Landschaft zu reflektieren. Das ist nur dank der kritischen Auseinandersetzung von Künstlerinnen und Künstlern seit dem 20. Jahrhundert bis heute möglich."
Ziel der Ausstellung ist es also, Goethes Reise nach Italien von einem intimeren Standpunkt aus nachzuvollziehen: "Wir werden von Goethe begleitet, aber anstatt uns um den allwissenden Literaten oder das Universalgenie zu sorgen, wählen wir die Gesellschaft eines sensibleren, uns näher stehenden Goethes, der seine 'Reise nach Italien' inkognito unternimmt, um ein anderes Ich zu entdecken. Dieses ist bereit, in Goethes Versuchen, die Landschaft, der er begegnet, zu zeichnen, zu experimentieren. Es ist bereit, ohne Vorurteile mit eigenen Augen zu erkennen, was schön und würdig ist."
Alterazioni Video, Luca Coser, Gerhild Diesner, Jeanne Faust / Jörn Zehe, Ursula Groser, Martin Kippenberger, Alexandra Kontriner, Artur Nikodem, Alessandro Piangiamore, Lois Weinberger
und von Johann Wolfgang von Goethe, Angelika Kauffmann, Pietro Marchioretto, Franz Edmund Weirotter.