Islamistischer Terror

Im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit

Vor wenigen Wochen wurden nicht eine, sondern zwei europäische Städte, Nizza und Wien, Opfer eines islamistischen Terroranschlags: Am 29. Oktober starben drei Menschen bei einer Messerattacke in der Kirche Notre-Dame-de-l‘Assomption in Nizza und bei einem terroristischen Amoklauf, der sich am 2. November in Wien ereignete, wurden vier Personen getötet und 23 weitere verletzt. Der Anschlag in Nizza muss im Kontext mit der Tötung von Samuel Paty interpretiert werden. Paty, der Lehrer war, hatte in seinem Unterricht eine Mohammed-Karikatur gezeigt und wurde aufgrund dessen ermordet. Der französische Präsident Macron verteidigte das Zeigen derartiger Karikaturen im Unterricht und verurteilte den Mord an Paty aufs Schärfste, was in mehreren Ländern der muslimischen Welt, allen voran in der Türkei, starke Gegenreaktionen sowie den Boykott französischer Produkte auslöste. Die beiden Taten sind die vorerst letzten tragischen Vorfälle in einer langen Reihe von islamistischen Terroranschlägen, die ihren Ausgang am 11. September 2001, mit den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center, Sinnbild des westlichen Wirtschafts- und Wertesystems, nehmen. Es gilt sich zu fragen, was die ideologische Ausgangsbasis für den Jihad ist, wie rekrutiert wird und wie die Psychologie der Täter und der Initiatoren funktioniert. Damit nicht genug! Die europäischen, oder generell westlichen Gesellschaften, sollten sich ebenso fragen, an welchem Punkte sie eine Mitschuld an dem eigenen Übel tragen und wie die Verteidigungs- und Sicherungsmechanismen in puncto Anti-Terrormaßnahmen sein sollten.

Messerangriff in Nizza am 29. Oktober 2020

Von Messerattacken und Enthauptungen über Schießereien bis hin zu Flugzeugentführungen. Es scheint, als ob der Terror keine Grenzen kennt.

Ideologische Basis

Der Fokus der Ideologie der islamistisch-terroristischen Organisationen ist die absolute kriegerische Interpretation des Begriffs Jihad, der als islamisch legitimierter militärischer Kampf zur Expansion und Verteidigung des Islams verstanden wird. Eine bedeutende Maxime ist hierbei die Gliederung der Welt in den Dār al-Islām (naher Feind) und den Dār al-Harb (ferner Feind). Diese beiden Termini finden sich jedoch weder im Koran noch in den Hadithen, die Aussprüche des Propheten Mohammed sammeln. Hinzu kommt der Kampf gegen Herrscher, die als vom Islam abgefallen interpretiert werden, weil sie die Scharia beispielsweise nicht anwenden. Antisemitismus und Antiamerikanismus bzw. die Ablehnung westlicher Denk- und Lebensweisen sind in dieser Ideologie inbegriffen, die "sämtliche weltliche Autorität als nicht bindend für Muslime" betrachtet. Das wichtigste Dokument des Jihadismus ist die Gründungserklärung der Islamischen Weltfront für den heiligen Krieg gegen die Juden und Kreuzfahrer:

 "In order to obey the Almighty, we hereby give the following judgement: The judgement to kill and fight Americans and their allies, whether civilian or military, is an obligation for every Muslim who is able to do so in any country […] Launch a raid on the American soldiers of Satan and their allies of the Devil."

["Um dem Allmächtigen zu gehorchen, geben wir hiermit folgenden Richtspruch ab: Der Richtspruch, Amerikaner und ihre Verbündeten, ob zivil oder militärisch, zu töten und zu bekämpfen, ist eine Verpflichtung für jeden Muslim, der dies in jedem Land tun kann […] ein Überfall auf die amerikanischen Soldaten Satans und ihre Verbündeten des Teufels."]

Diese 1998 von verschiedenen Islamistenführern unter der Schirmherrschaft von Osama bin Laden verabschiedete Erklärung verdeutlicht die Philosophie und Vorgehensweise des islamistischen Terrorismus.

Ein weiteres Charakteristikum für den islamistischen Terrorismus ist die Bereitschaft zur asymmetrischen Kriegsführung, wobei besonders Selbstmordattentate vorgenommen werden. Ideologisch spielt hierbei die Überzeugung, dass die Attentäter als Schahis (Märtyrer) direkt ins Paradies einziehen dürfen eine bedeutsame Rolle. Eine weitere Motivation besteht in der finanziellen Unterstützung, die die Familien von Selbstmordattentätern bekommen, und das gesellschaftliche Ansehen, das ihnen generelle entgegengebracht wird.

Geopolitische und historische Hintergründe im Nahen Osten

Der transnationale islamistische Terrorismus, dessen hauptsächliches Kennzeichen die länderübergreifende Vernetzung terroristischer Organisationen auf substaatlicher Ebene ist, hat sich im Grunde bereits 1979 mit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan herausgebildet und richtet sich nicht nur gegen die herrschenden Verhältnisse in der arabischen Welt und in Südasien, sondern auch gegen den Westen und seine Werte. Der transnationale Terror unterscheidet sich hierbei vom internationalen Terror durch die abnehmende Unterstützung von staatlichen Unterstützern, wobei der internationale Terror gewissermaßen der Vorläufer des transnationalen Terrors war. Der transnationale Terror setzt sich also aus Mitgliedern verschiedener Nationalitäten zusammen, die länderübergreifend miteinander vernetzt sind. An Waffen und Geld gelangen die transnationalen Terroristen durch private Unterstützung oder durch den Aufbau eigener, substaatlicher Finanzierungs- und Logistiknetzwerke sowie durch illegale Geschäfte. Die Übergänge zwischen diesen beiden Formen von Terror sind zwar fließend, aber ein wichtiges Datum stellt die Entführung eines Flugzeuges der israelischen Fluggesellschaft El Al von Rom nach Tel Aviv durch die palästinensische "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) am 22. Juli 1968 dar. Die Häufigkeit der Anschläge nahm danach stetig zu. Ein wichtiges Kennzeichen des internationalen Terrorismus war die staatliche Unterstützung für zahlreiche terroristische Gruppierungen, wobei es sich bei den Unterstützerstaaten in der Regel um Verbündete der Sowjetunion handelte. Vor allem sind hierbei Irak, Libyen, Syrien und der sozialistische Südjemen zu nennen, die keine Sanktionen seitens der USA und ihrer Verbündeten fürchten mussten, solange die UdSSR bestand. Eine Unterstützung, die schon Mitte der 80er Jahre wegfiel und so eine Transnationalisierung zur Folge hatte.

Die Transnationalisierung wurde von dem sowjetischen Afghanistankrieg ausgelöst: Die Rote Armee war im Dezember 1979 in das Nachbarland einmarschiert, um die prosowjetische Regierung dort vor dem Sturz zu bewahren. Umgehend bildeten sich afghanische Widerstandsgruppen, die von Pakistan aus unter US-amerikanischer, saudi-arabischer und pakistanischer Mithilfe agierten. Ihnen schlossen sich vor allem ab 1985 zahlreiche arabische Islamisten an, die gekommen waren, um der Repression in ihren Ländern zu entfliehen und ihren bedrängten Glaubensbrüdern beizustehen. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die wohl bis heute wichtigste Strömung des transnationalen islamistischen Terrorismus heraus, der Jihadismus. Diese "Denkschule" wurde von dem Palästinenser Abdallah Azzam (1941–1989) begründet. In seinen Schriften propagierte er den "Jihad" als individuelle Glaubenspflicht jedes Muslims, sobald Nichtmuslime muslimisches Territorium besetzten. Auf dieser Grundlage rief er zum bewaffneten Kampf in Afghanistan auf, machte aber deutlich, dass es ihm auch um die "Befreiung" Palästinas, um Kaschmir und Tschetschenien, die südlichen Philippinen sowie um das islamische al-Andalus (der im Mittelalter muslimisch beherrschten Teile der Iberischen Halbinsel). ging. Neben dieser Denkschule, die sich sozusagen auf die Bekämpfung der Feinde von außen fokussiert, entwickelte sich in den 1980-er Jahren eine parallele Strömung heraus, die sich gegen den "Feind" im Inneren richtete. Es ging den Anhängern dieser Strömung um eine revolutionäre Umwälzung des Systems in ihrem Heimatland: Der Chefideologe dieser Gruppe war Muhammad Abd as-Salam Farag (1952–1982). Er vertrat die Auffassung, dass der Kampf gegen den "nahen Feind", das heißt die autoritäre Regierung des Heimatlandes, Priorität vor dem Kampf gegen "ferne Feinde" wie die Sowjetunion, die USA und Israel haben müsse. Seine Ideen prägten die Strategien ägyptischer Islamisten bis Mitte der 1990er-Jahre. Im Gegensatz zu dieser Strömung lehnte Da Azzam den Kampf gegen muslimische Regime in der arabischen Welt vehement ab. Neben diesen beiden Strömungen bildete sich die neue internationalistische Schule heraus, deren wichtigster Vertreter der Saudi-Araber Osama Bin Laden (1957–2011) war, der sich ab Mitte der 1980er-Jahre nach und nach von seinem Mentor Azzam löste. Diese Bewegung formierte sich nach dem Kuwait-Krieg 1990/91, als eine von den USA angeführte Koalition das von irakischen Truppen okkupierte Kuwait befreite und zu diesem Zweck etwa 500.000 Soldaten in den arabischen Golfstaaten stationierte. Die US-amerikanische Präsenz in Saudi-Arabien veranlasste viele junge Saudis, Kuwaitis und Jemeniten, den bewaffneten Kampf gegen die USA aufzunehmen.

Im Kontext des Afghanistankrieges haben sich Nebenschauplätze in Südasien eröffnet. Hierbei sind vor allem Kaschmir und Pakistan zu nennen, denn die pakistanischen Islamisten hatten ihre Glaubensbrüder in Afghanistan unterstützt und waren nach dessen Ende auf der Suche nach einem neuen "Einsatzgebiet", das sie in Kaschmir fanden, wo 1989 ein Aufstand einheimischer muslimischer Gruppen gegen die indische Obrigkeit ausgebrochen war. Schon zu Beginn der 1990er-Jahre nahm der Einfluss Pakistans auf den Aufstand stark zu. Es entstand die Bewegung Lashkar-e Tayyiba.

Erst nach dem Rückzug der Sowjetunion aus Afghanistan, dem vermeintlichen Sieg der Muslime, begannen einzelne Organisationen, sich dem Kampf gegen den "fernen Feind" zu widmen. Eine zentrale Figur war dabei Osama bin Laden und seine Organisation Al-Qaida. Al-Qaida ist bereits 1988 als lockere Vereinigung gleichgesinnter Jihadisten in Afghanistan gegründet worden, aber die Strukturen festigten sich erst Mitte der 90er Jahre als sich die Jihadisten verschiedener Nationen um Bin Laden mit den Ägyptern um Aiman az-Zawahiri zusammenschlossen. Der Grund hierfür bestand darin, dass die jeweiligen Terrororganisationen die Regime in ihren Ländern nicht stürzen konnten. Die Konzentration auf den "nahen Feind" trug dementsprechend keine Früchte, sodass Aiman az-Zawahiri zu der Überzeugung kam, dass der "ferne Feind" bekämpft werden müsse, da die Regime ohne die Unterstützung Amerikas sich nicht weiter gegen die Terroristen durchsetzen könnten. Regime wie das von Husni Mubarak in Ägypten oder das der Familie Saud in Saudi-Arabien würden fallen. Dieses Umdenken schlug ganz in die Richtung Bin Ladens, der sich bereits Anfang der 90er dazu entschlossen hatte, die Saudis zu bekämpfen. Nun vereinigt sich die Erfahrenheit im Kampf der Gruppe um az-Zawahiri mit der Finanzkraft des Saudis Bin Laden. 1998 veröffentlichten Bin Laden und az-Zawahiri die o.g. Erklärung der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler" und kündigten Attentate auf militärische und zivile US-amerikanische Ziele an. Am 7. August 1998 folgten dann die ersten großen Anschläge der Al-Qaida in Daressalam sowie in Nairobi. In beiden Städten zündeten Selbstmordattentäter mit Autobomben die US-Botschaften an, wobei 200 Menschen den Tod fanden. Die Anschlagswelle kulminierte am 11. September 2000 in den Anschlägen auf das World Trade Centre und das Pentagon. Die USA übte Vergeltung, indem sie den Staat der Taliban in Afghanistan stürzte, womit Al-Qaida ihr wichtigstes Rückzugsgebiet verlor, in dem sie seit 1996 ihr Hauptquartier eingerichtet hatte.

Bedrohung durch den IS (Islamischen Staat)

Der IS (Islamische Staat), der gewissermaßen die Nachfolge von Al-Qaida antritt, hat sich über Jahre hinweg entwickelt. Im Gegensatz zu Al-Qaida strebt er eine lokale Herrschaft an. Und hat für die Verfestigung seiner Macht entsprechende Strukturen ausgebildet. Seither hat der IS sich zu zahlreichen Anschlägen bekannt: Der Anschlag, der am 14. Juli 2016 in Nizza verübt wurde, ist dem IS zuzuschreiben. Es folgt der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche welcher vom islamistischen Terroristen Anis Amri am 19. Dezember 2016 durchgeführt wurde. Auch der jüngste Anschlag in Wien wurde ebenso vom IS für sich reklamiert. Der "Islamische Staat", ist in Reaktion auf die von den USA angeführten Angriffe auf den Irak und infolge der nachfolgenden Besatzung entstanden. Unter despotischen Gruppierungen und unter anarchischen Zuständen konnten bewaffnete kämpferische Truppen samt ihrer islamischen Vergeltungsrhetorik entstehen, wachsen und über ihren lokalen Kontext hinaus an Anhängerschaft gewinnen. Den unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Organisation sind bestimmte ideologische Führer und bestimmte Orte zuzuordnen, die jeweils eigene Generationen an jihadistischen Kämpfern hervorbrachten und eigene ideologische Akzente gesetzt haben. Zu den Vordenkern der ersten Generation zählen Abdullah Azzam und Osama bin Laden, die zu Beginn die Al-Qaida-Organisation gegründet hatten. Diese war damals das Ergebnis der Kombination aus drei unterschiedlichen Komponenten: Der Wahhabi-Salafismus Saudi-Arabiens, an den Osama bin Laden gekoppelt war, kam zusammen mit den dynamischen Strukturen der Muslimbruderschaft unter Abdullah Azam und der Neo-Jihadistische Bewegung aus Ägypten unter Aiman az-Zawahiri. Das Ergebnis dieser drei Komponenten war das Entstehen der ersten Generation von Jihadisten mit überregionaler Orientierung. Abu Musab az-Zarqawi steht für die zweite Generation von Jihadisten, die seit 2003 im Irak als Al-Qaida-Vertreter in Erscheinung tritt. Es ist jedoch anzumerken, dass die Strukturen des islamistischen Terrors sehr dynamisch sind und einem ständigen Wandel unterliegen, was das Beispiel IS zeigt.

Islamistischer Terrorismus und Europa – Terrorabwehr in Italien

Der Jahresbericht 2010 von Europol hält fest: "Islamistischer Terror wird von den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor als größte Bedrohung angesehen". Tatsächlich belaufen sich die durchschnittlichen Verhaftungen europäischer Behörden jährlich auf zirka 200 Personen mit jihadistischem Hintergrund und sie verhindern so jihadistisch motivierte Straftaten, wobei der überwiegende Teil dieser Ermittlungen europäische Muslime, Immigranten der zweiten oder dritten Generation sowie eine wachsende Zahl von Konvertiten betrifft, die sich in Europa jihadistischen Ideologien verschrieben haben.
Um dieser Bedrohung zu begegnen, haben fast alle EU-Länder ihre Antiterrormaßnahmen verstärkt, Gesetze verschärft und Personal sowie Kapazitäten ihrer Geheimdienste aufgestockt. Verschiedene Länder haben auch zusätzliche Schritte eingeleitet und führten Strategien zur Radikalisierungsprävention ein, um so Extremisten zu deradikalisieren. Vordenker wurde hierbei Großbritannien, das bereits 2003 das Programm Prevent, das eine Radikalisierungsprävention einleiten sollte, startete. Während Großbritannien, Dänemark, Holland und Norwegen ausgeprägte nationale Strategien mit definierten Zielen und Methoden sowie einem Budget für diese ausgebildet haben, entwickelten andere europäische Länder weniger umfassende Projekte, die sich vielfach nur auf lokale Ebene beziehen. Aus diesem Grund unterscheiden sich die verschiedenen Programme zur Radikalisierungsbekämpfung und -prävention stark– hinsichtlich ihrer Ziele, Strukturen und Budgets ebenso wie hinsichtlich der zugrunde liegenden Philosophien – wobei politische, kulturelle und juristische Elementen des jeweiligen Landes eine große Rolle spielen. Da die meisten dieser Projekte erst seit wenigen Jahren im Einsatz sind, können noch keinerlei Aussagen darüber getroffen werden, wie erfolgreich sie jeweils sind. Allerdings können die Präventionsprogramme in zwei Kategorien unterteilt werden: Gezielte Prävention und allgemeine Prävention. Die allgemeinen Präventionsmaßnahmen, die sich hinsichtlich Art und Wese sowie Philosophie unterscheiden können, sind darauf ausgerichtet, es gar nicht erst zu einer Radikalisierung kommen zu lassen. Als Beispiel hierfür kann das Projekt "Radikaler Mittelweg" (Radical Middle Way), das vom britischen Außenministerium gefördert wird und das darauf abzielt, moderate muslimische Gelehrte dazu zu bewegen, vor muslimischen Jugendlichen zu sprechen und auf diese Weise eine Radikalisierung zu verhindern. Andere Projekte zielen hingegen darauf ab, den jungen Muslimen die Integration in die westlichen Gesellschaften sowie den Zugang zu Beschäftigung und zum Bildungssystem zu erleichtern, sodass diese gar nicht erst in Versuchung kommen. Ein anderer Ansatz sind kulturell-psychologische Programme, die u.a. in den Niederlanden zur Anwendung kommen: Diese Projekte sollen die Durchsetzungsfähigkeit sowie die zwischenmenschlichen und empathischen Fähigkeiten der Jugendlichen stärken. Diesem Ansatz liegt die Idee zu Grunde, dass ein Individuum, dass stolz auf seine eigene Herkunft ist und das sich zeitgleich nicht unwohl in andersartigen Gruppen fühlt, weniger anfällig für eine Radikalisierung ist. Dies sind nur einige wenige Beispiel für Präventionsansätze. In Projekte dieser Art wurden in den vergangenen Jahren große Summen investiert. Angesichts der Tatsache, dass die Erfolge dieser Präventionen noch nicht absehbar sind und sie so viel kosten, entscheiden sich immer mehr europäische Länder für den Ansatz der gezielten Intervention.

Die gezielte Intervention zielt im Kern darauf ab, Individuen, meistens junge Männer eines bestimmten Alters, ausfindig zu machen, wenn sie sich bereits in einer Radikalisierungsphase befinden, aber noch keine Straftaten begangen haben. Sie sollen praktisch aus dieser Phase einer beginnenden Radikalisierung zurückgeholt werden. Obwohl die europäischen Länder auch die gezielte Intervention unterschiedlich handhaben, herrscht Einigkeit darüber, dass diese sogenannte weiche Maßnahme ein wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Antiterrorpolitik darstellt. Der erste wichtige Schritt in diesem komplexen und heiklen Prozess erfolgt durch das Erkennen und die Signalisierung. Polizisten vor Ort sowie Lehrer und Sozialarbeiter gelten als diejenigen, die als Erste erkennen können, wenn sich ein junger Mensch radikalisiert. Allerdings ist bereits diese Rekrutierung von Frontlinern der erste kritische Punkt in dem Prozess der Rückverfolgung von Personen, die sich radikalisieren, denn diese Personen müssen zunächst einmal davon Überzeugt werden, dass eine Notwendigkeit dazu besteht, als Frontliner der Antiterrorpolitik zu fungieren. Sozialarbeiter und Lehrer in den Niederlanden und Großbritannien haben sich dem zunächst verweigert. Dafür war es unabdingbar, den Behörden an vorderster Front die Aufgabe nicht als eine zu vermitteln, bei der es darum geht, "mutmaßliche Terroristen zu entlarven", sondern vielmehr als Intervention aus Fürsorge und im ureigenen Interesse des jeweiligen Jugendlichen. Hierbei spielt auch der richtige Einsatz von Sprache ein wichtige Rolle, denn Worte wie "Radikalisierung", "Extremismus" oder "Terrorismus" müssen möglichst vermieden werden. Wenn ein Individuum hinsichtlich einer möglichen Radikalisierung gefährdet zu sein schein, wird von einer Bewertungsstelle eine Einschätzung der Situation und des Grades der Radikalisierung vorgenommen. Je nach Einschätzung wird versucht, den gefährdeten Jugendlichen von der Radikalisierung abzuwenden und ihn im normalen Leben wieder zu "resozialisieren". Die jeweilige Intervention wird hierbei auf den Einzelfall zugeschnitten und zielt darauf ab, die Schwachstelle im Leben des Jugendlichen zu schließen, die ihn in die Radikalisierung treibt. Oft bedeutet auch diese Art von Intervention Kosten, denn zumeist leben die Personen, die zur Radikalisierung neigen in prekären Verhältnissen und ohne materielle Absicherung. Es sind diese materiellen Unsicherheiten, die zur Radikalisierung führen, wobei eine Intervention auf ideologischer Ebene ebenso wichtig ist, da eine materielle Verbesserung allein nicht ausreicht, um die Radikalisierung rückgängig zu machen. Oft wird die ideologische Intervention von einem Mentor übernommen, dessen Aufgabe es ist, Zweifel hinsichtlich der Radikalisierung zu wecken, wobei die Persönlichkeit des Mentors von ausschlaggebender Bedeutung ist. Ist die Intervention erfolgreich, bewegt sich das entsprechende Individuum nicht länger in dem radikalen Milieu.

Blicken wir aber wieder nach Frankreich, wo besonders zahlreiche Terroranschläge die Franzosen bis heute beschäftigen. Im Kampf gegen den Terrorismus gibt es in Frankreich drei verschiedene Arten von Reaktionen: Erstens solche, die sich auf die Verbesserung der rechtlichen Mittel für diesen Kampf beziehen.  Zweitens solche, die auf die Stärkung menschlicher und materieller Ressourcen abzielen. Und drittens hat sich Frankreich an einigen internationalen Anti-Terror-Operationen beteiligt. Frankreich hat bereits vor den Anschlägen auf die Redaktion des Satireblattes Charlie Hebdo und den Bataclan Club im Jahre 2015 (Video) begonnen seine Anti-Terror-Strategien und -Instrumente auszuweiten. Am 4. November 2014 wurde sogar ein neues Gesetz verabschiedet, das Vorschriften und Gesetze gegen den Terror enorm gestärkt hat und dennoch ist gerade Frankreich immer wieder Ziel von Anschlägen terroristischer Art. Vielleicht mehr als andere europäische Länder. Im Kontext des eingangs genannten Anschlags in Nizza kann man sagen, dass Frankreich das Land in Europa ist das die stärkste Tendenz hin zum Laizismus aufweist und diesen stark auslebt. Hinzu kommt, dass Frankreich Geschichte als Kolonialmacht in die Problematik hineinspielt: Die Maghreb-Gebiete und West- und Zentralafrika wurden im Rahmen der zweiten französischen Kolonialisierungswelle zu französischen Kolonien. Der Großteil der Bevölkerung war muslimisch geprägt. Zahlreiche Menschen aus den ehemaligen Kolonien sind nach Frankreich emigriert und werden dort nicht richtig in die französische Gesellschaft integriert, sondern als Menschen zweiter Klasse behandelt. Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und schlechte finanzielle Verhältnisse treiben diese Menschen in die Radikalisierung. Die Radikalisierung funktioniert, weil sie den Jugendlichen ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe sowie einen Sinn gibt. Aus diesem Grund wird Frankreich immer wieder zur Zielscheibe für den islamistischen Terror.

Wie ist die Situation von Italien einzuschätzen? Könnten derlei Anschläge auch auf der Halbinsel passieren? Tatsächlich scheint Italien im europäischen Vergleich seltener Ziel von islamistischen Terroranschlägen zu werden, aber das bedeutet nicht dass Italien von dieser Problematik gänzlich frei ist.  Auffällig ist nämlich, dass die Täter von späteren Terroranschlägen häufig in Italien Station gemacht haben. Die Zeit Online titelte im Mai diesen Jahres "Italienische Polizei nimmt mutmaßlichen Helfer von Anis Amri fest". Der Tunesier Anis Amri war der Attentäter, der den Anschlag aus den Berliner Weihnachtsmarkt bei der Gedächtniskirche am 19. Dezember 2016 zu verantworten hatte. Dem italienischen Justizministerium zufolge kam Amri während des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 wie Zehntausende per Boot nach Lampedusa. Am 5. April 2011 wurde seine illegale Einreise in die EU von der Polizei registriert. Als der damalige Ministerpräsident Berlusconi beschloss, dass 6000 Flüchtlinge auf das italienische Festland kommen dürfen, gab Amri ein falsches Geburtsjahr an und wurde dementsprechend noch als Minderjähriger eingestuft und kam in einer katholischen Stiftung unter, wo er schnell Verhaltensauffälligkeiten und Gewaltbereitschaft zeigte. Unter anderem legte er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen Feuer in der Einrichtung. Hierbei ist ein Schaden von rund 30.000 Euro entstanden und die kriminelle Karriere des damals 19-Jährigen nahm ihren Lauf, denn er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt und in Catania inhaftiert. Vielfache Wechsel der Gefängnisse waren die Folge, da die Gefängnisstrafe Amri nicht dazu brachte, sich zu bessern, sondern ihm dazu diente Wärter anzugreifen sowie Mitinsassen zu schikanieren und zu verprügeln. Nach seiner Entlassung im Mai 2015 berichtete die Strafvollzugsbehörde dem Komitee für strategische Antiterrorismus-Analyse (Comitato di Analisi Strategica Antiterrorismo – C.A.S.A.), das dem Innenminister untersteht, über Details seiner Haft, während der er bereits Zeichen von Radikalisierung und Annäherung an die Ideen des islamistischen Terrorismus gezeigt hat. Einem christlichen Mithäftling soll er gedroht haben, ihn zu enthaupten. Eine Abschiebung nach Tunesien scheiterte aufgrund von bürokratischen Ungereimtheiten und konnte dementsprechend nicht auf den Weg gebracht werden. Italienische Sicherheitskreise berichteten, dass der Inlandsgeheimdienst, Agenzia Informazioni e Sicurezza Interna (Behörde für Informationen und innere Sicherheit) Amri nach seiner Entlassung zu dem Zweck überwachte, den bereits als radikalen Islamisten erkannten Tunesier auf seinem vorgezeichneten Weg in die italienische Jihadistenszene zu beobachten. Die Überwachung scheiterte jedoch, als man Amri wegen einer Panne aus den Augen verlor. Anhand dieses Beispiels lässt sich nachvollziehen, dass Italiens geographische Lage an der Außengrenze der EU, mit der Insel Lampedusa sicherlich als ein wichtiger Knotenpunkt und als Einfallstor für potentielle Attentäter des islamistischen Terrors betrachtet werden muss, auch wenn die Radikalisierung häufig nicht in den Heimatländern, sondern gerade in den europäischen Gefängnissen stattfindet. Der Ansatz der Prävention ist also nicht falsch, denn es muss versucht werden, junge Menschen, deren Aggressionspotential sicherlich auch mit dem Erlebten (psychologische Komponente) zu tun hat, davor zu bewahren straffällig zu werden und damit in die Hände von Radikalisierern zu geraten.

Politisch bedeutet diese Problematik für Italien eine Spaltung, denn der Rechtsruck und Populismus werden durch derartige Entwicklungen verstärkt; Eine Beobachtung, die nicht nur auf Italien zu beschränken ist, sondern die auch für andere Länder Gültigkeit hat. Der PD hat das Dublin-System, den Völkerrechtsvertrag aus dem Jahr 1990,  unterschrieben, dem zufolge die Flüchtlinge in dem Land aufgenommen werden und bleiben müssen, in dem sie angekommen sind, was für Italien, das partiell die Außengrenze der EU bildet, kein besonders vorteilhaftes Abkommen war. Die Marschrichtung des PD scheint klar in Richtung Öffnung der Häfen für alle zu deuten. Die Fünf-Sterne-Bewegung macht sich für die legale Möglichkeit der Einwanderung, die gerechte und automatische Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU sowie für eine schnellere Erkennung des jeweiligen Status als asylsuchender Flüchtling stark und konzentriert sich überdies auf eine transparente Finanzierung der Flüchtlingspolitik im europäischen Kontext. Diesen beiden moderaten "Lösungsansätzen" für eine italienische Flüchtlingspolitik, die vorsehen, die Häfen für die Flüchtlinge geöffnet zu lassen, steht  Matteo Salvini, Vertreter von Lega Nord, entgegen. Er befürwortet die Flüchtlingspolitik von PD und Fünf-Sterne-Bewegung nicht. Bereits 2009 machte Salvini mit dem Vorschlag, Rassentrennung von Einwanderern und Italienern in Eisenbahnwagen einführen zu wollen, auf sich aufmerksam. Diese Haltung zieht sich bis heute durch Salvinis Flüchtlingspolitik. Furore machte Salvinis in seiner Zeit als Innenminister in der Causa "Sea-Watch 3", im Rahmen derer er sowohl die Rettungsorganisation Sea-Watch, als auch die italienische Justiz selbst sowie die deutsche Kapitänin des Schiffes Carola Rackete verbal angriff. Das Verhalten des damaligen Innenministers führte zu einer Reaktion des UN-Menschenrechtsrates und zur Strafverfolgung Salvinis, da Rackete eine Verleumdungsklage eingeleitet hatte. Kritik wird gegenüber Salvini immer wieder auch deshalb geübt, weil er eine Affinität zum Neofaschismus zeigt. Ende Juli 2020 hob der italienische Senat die Immunität Salvinis auf, um in einem weiteren Gerichtsverfahren in Palermo Vorwürfen wegen Amtsmissbrauchs nachzugehen. Salvini hatte in seiner Zeit als Innenminister dem Schiff "Open Arms" der spanischen Seenotrettungsorganisation "Proactiva Open Arms" mit Dutzenden aufgenommenen Flüchtlingen an Bord zunächst nicht erlaubt, in Italien vor Anker zu gehen, obwohl sich sechs EU-Staaten zu deren Aufnahme bereit erklärt hatten.

In einer globalisierten und vernetzten Welt müssen die Handlungen der westlichen Länder im Nahen Osten, die Flüchtlingsproblematik und der islamistische Terror, der erst in den USA und später auch in Europa Einzug gehalten hat, als ein  zusammenhängender Problemkomplex betrachtet und als solcher gelöst werden. Eine Destabilisierung im Nahen Osten hat gewissermaßen auch eine Destabilisierung unserer europäischen Lebensverhältnisse zufolge. Aktion erzeugt Reaktion und all diese komplexen Querverbindungen erfordern eine komplexe Lösung, an der sich alle politischen Akteure beteiligen müssen. Etwas vereinfacht, kann man es mit Niall Fergusons Worten sagen, der in seinem Werk "Türme und Plätze. Netzwerke, Hierarchien und der Kampf um die globale Macht" hinsichtlich des Netzwerkes, das zu dem Attentat am 11. September 2001 geführt hat, schrieb, dass es zur Bekämpfung von Netzwerken Netzwerke brauche. Ebendieses Netzwerk sind Politik und Behörden gefordert zu bilden und zwar zum Wohle aller.

 

 

 

VOX News Südtirol / Ninja Brockmann