Seilbahnunglück: Der Skandal explodiert

Video beweist Manipulation der Notbremse seit 2014

MIT VIDEO: Die Videoaufnahmen des Schweizer Hobbyfilmers Michael Meier beweisen, dass die an der Bremsanlage angebrachten Klammern an Kabinen der Seilbahn Stresa-Mottarone schon mindestens seit dem Jahr 2014 angebracht waren. Meier, der aus rein technischem Interesse, eine Vielzahl von Seilbahnen auf Video aufzeichnet und die Videos unter anderem im Internet auf der Homepage "Stahlseil.ch" sowie auf YouTube veröffentlicht, ist der Sache auf die Spur gekommen, als er seine Videos von der verunglückten Seilbahn erneut betrachtete. Mehr noch: Auf den Videos von 2014, 2016 und 2018, der am Pfingstsonntag, 23. Mai 2021, verunglückten Seilbahn, ist zu sehen, dass die Klammern, welche die Bremsanlage deaktivierten, noch nicht rot eingefärbt waren. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung "La Stampa" erklärte der externe Betriebsdirektor der Seilbahn Stresa-Mottarone und Mitarbeiter des Sterzinger Seilbahnbauers Leitner, Enrico Perocchio, dass er es war, der die Klammern rot einfärben hat lassen. Angesichts dieser Aussagen und der Videobeweise dürfte klar werden, dass der Einsatz der Klammern zur Deaktivierung der Bremsanlage bei regulären Personentransporten sich nicht nur auf den Zeitpunkt der Wiederinbetriebnahme der Seilbahn im Jahr 2021 (26.04.2021) beschränkte und wohl auch, dass wesentlich mehr Personen vom illegalen Einsatz der eigens rot eingefärbten Klammern gewusst haben müssen.

Im Video aus dem Jahr 2018, veröffentlicht auf "Stahlseil.ch" sind deutlich die zwei rot eingefärbten Klammern zu sehen. Sie sind auf der Bremsanlage der Seilbahnkabine angebracht und setzen die Bremsfunktion der Kabine außer Betrieb.

Die Ermittlungen nach dem Seilbahnunglück am Pfingstsonntag nahe des Lago Maggiore gehen weiter. Die Notbremsen könnten möglicherweise seit Jahren manipuliert gewesen sein. Videoaufnahmen des Schweizer Hobbyfilmers Michael Meier zeigen Klammern, welche die Notbremsen bei Normalbetrieb der Seilbahn blockieren – und das bereits über mehrere Jahre hinweg. Meier nahm aus rein technischem Interesse die Anlage in den Jahren 2014, 2016 sowie 2018 auf. Auf allen drei Videos sind die Klammern (ital.: Forchettoni) zu erkennen, welche ausschließlich für Wartungszwecke der Bahn bestimmt sind. Die Klammern verhindern den ordnungsgemäßen Betrieb der Notbremsen.

"Mir ist dann aufgefallen, dass auf diesen Fotos diese 'Forchettoni' zu sehen sind. Schon im Jahr 2014 wurden diese 'Forchettoni' mit Personen in der Kabine eingesetzt", sagte Michael Meier gegenüber dem Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF), welches heute Abend in seiner TV-Sendung "Frontal21" das Thema aufgreifen und rund um das Seilbahnunglück am Lago Maggiore berichten wird.

Experten unterstützen den Hobbyfilmer

Das "ZDF" legte Fotos und Videos auch dem Schweizer Seilbahnfachmann Prof. Gabor Oplatka vor. Oplatka leitet über viele Jahre den Bereich Seilbahntechnik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Auch er kommt zum Schluss, dass man die Manipulation der Bremsanlagen an Seilbahnkabinen offensichtlich über Jahre praktiziert hat. "Und bis jetzt hat man Glück gehabt, weil ein Zugsachschaden relativ selten vorkommt", so der Seilbahnexperte der Technischen Hochschule Zürich. Oplatka erläutert weiters, dass die Klammern lediglich da seien, um die Wartung der Seilbahnanlage zu erleichtern. Es verhindert ein zu leichtes Zuschnappen der Notbremse.

Seilbahnunglück: Verdächtige beteuern Unschuld

Am Sonntag vor einer Woche hatten 14 Menschen ihr Leben verloren, als am Monte Mottarone westlich des Lago Maggiore in der norditalienischen Region Piemont das Zugseil der Seilbahn riss und die aufwärtsfahrende Kabine zunächst ungebremst talwärts rollte, am ersten Pfeiler aus dem Tragseil gerißen wurde und an Bäumen eines angrenzenden Waldes zerschellte. Nur ein kleiner Junge überlebte. Die Justiz will in weiteren Untersuchungen klären, warum das Zugseil riss und wer noch von den Klammern wusste. Unmittelbar nach dem Unglück wurden von der Staatsanwaltschaft Verbania der Geschäftsführer der "Ferrovie del Mottarone" Luigi Nerini (56), der Cheftechniker der Seilbahn Gabriele Tadini (63) und der externe Betriebsdirektor und Leitner-Mitarbeiter Enrico Perocchio (51) verhaftet. Nach der Haftprüfung konnten in der Nacht von Samstag auf Sonntag der Geschäftsführer Nerini und der externe Betriebsdirektor Perocchio das Gefängnis wieder als freie Männer verlassen. Nur der Cheftechniker Tadini wurde von Ermittlungsgrichterin Donatella Banci Bonamici in Hausarrest überstellt. Tadini hatte zuvor gestanden die Klammern an der Bremsanlage angebracht zu haben. Er hat aber auch ausgesagt, dass Nerini und Perocchio von der Manipullation wussten. Die beiden bestritten die Aussagen und wurden anschließend auf freiem Fuß gesetzt. 

Leitner-Mitarbeiter ließ die Klammern rot einfärben

In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung "La Stampa" erklärte der externe Betriebsdirektor der Seilbahn Stresa-Mottarone und Mitarbeiter des Sterzinger Seilbahnbauers Leitner, Enrico Perocchio, dass er es war, der die Klammern rot einfärben hat lassen. Nach Veröffentlichung des Videos durch Michael Meier wird jedoch klar, dass der Einsatz der Klammern bei Normalbetrieb nicht erst ab Wiederinbetriebnahme der Seilbahn am 26. April 2021 erfolgte, sondern auch schon in den Vorjahren durchaus üblich war. Besonders auffallend: In Meiers Videoaufnahmen der Jahre 2014 und 2016 sind die Klammer nicht rot eingefärbt. Erst im Video vom 9. Juni 2018 sind die an den Notbremsen angebrachten Klammern mit roter Farbe gekennzeichnet. Noch etwas fällt auf: Auf den Aufnahmen aus den Jahren 2014 und 2016 ist auf Schildern, die am Laufwerk und am Gehänge der Seilbahnkabine angebracht sind, der Name des Wartungsdienstes zu lesen. Es handelt sich um das in Leini, einem Vorort von Turin, ansässige Seilbahnbauunternehmen "Poma Italia S.p.A.". Das Unternehmen "Poma" wurde mittlerweile in "Augudio" umbenannt und ist heute eine direkte Nebenproduktionsstätte des Sterzinger Seilbahnbauers Leitner, welche sich auf den Bau von Materialseilbahnen und Materialförderbändern spezialisiert hat.

Angesichts der Unstimmigkeiten in den Aussagen und der erschütternden Videobeweise des Schweizer Hobbyfilmers dürfte klar werden, dass der Einsatz der Klammern zur Deaktivierung der Bremsanlage bei regulären Personentransporten sich nicht nur auf den Zeitpunkt der Wiederinbetriebnahme der Seilbahn im Jahr 2021 beschränkte und noch etwas zeichnet sich ab: Offensichtlich waren wesentlich mehr Personen vom langjährigen illegalen Einsatz der eigens rot eingefärbten Klammern informiert, als bislang bekannt und von den betroffenen Verantwortlichen zugegeben.

Dieses Video (Quelle YouTube - "Stahlseil.ch") zeigt die unterstellte Fangbremse im Januar 2014 und Juni 2018. Am 23.05.2021 starben bei einem Unfall 14 Personen.

 

LinkedIn-Ausschnitt von Enrico Perocchio. Zunächst Mitarbeiter von "Poma Italia S.p.A." dann vom Sterzinger Seilbahnbauer Leitner. Was wusste der Leitner-Mitarbeiter und warum ließ er die Klammern zu einem späteren Zeitpunkt rot einfärben?

 

 

VOX News Südtirol / red