Der Pestizidprozess

Spritzmittel Nein danke – und was dann?

Eins, zwei oder drei… Ihr müsst euch entscheiden… Bio oder moderner Pflanzenschutz? Und der Südtiroler, die Südtirolerin springt, und weiß oft nicht genau, warum, wohin. Nicht selten wird derjenige, der sich zum einen bekennt, vom anderen angefeindet. Ergebnis: ziemlich harte Fronten. Im September 2020 kam es in Südtirol zum sogenannten Pestizidprozess. Karl Bär, engagierter Umweltaktivist und Agrarreferent des Vereins Münchner Umweltinstitut hielt mit seiner Meinung, die Südtiroler Landwirte würden es mit dem Einsatz von Pestiziden übertreiben, nicht hinter dem Berg. Die Apfelbauernlobby war erschüttert und Bär wurde mit einer Fuhre von Klagen überrollt. Der sogenannte Pestizidprozess hat über Südtirols Grenzen hinaus für Schlagzeilen gesorgt. Unter anderem hat dazu auch Wissenschaftler und Universitätsprofessor Dr. Andreas von Tiedemann, Abteilungsleiter für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Georg-August-Universität Göttingen, in einem Leserbrief und in einem Gespräch mit uns Stellung bezogen. Er schlägt Töne an, die man eher selten hört im Mediengeheule.

Kundgebung vor dem Bozner Gerichtspalast zum Auftakt des sog. "Pestizidprozesses". Rechts: Prof. Andreas von Tiedemann, Abteilungsleiter für Pflanzenpathologie und Pflanzenschutz an der Georg-August-Universität Göttingen. Credits: Jörg Farys/globalmagazin.com / Andreas von Tiedemann

„Bei diesem Prozess ist es den klagenden Bauern darum gegangen, dass falsche Tatsachen verbreitet worden sind, und das nennt man Verleumdung“, so Tiedemann. Denn schlicht unwahr sei, man würde Gift spritzen, sagt er. Keines der Pflanzenschutzmittel im Obstbau, wie auch sonst in der Landwirtschaft, gehöre noch einer Giftkategorie an, das seien gern gepflegte Legenden von Umweltorganisationen, denen nicht an Aufklärung, sondern an Aufmerksamkeit gelegen sei. Bedenklich für Umwelt und Verbraucher sei Pflanzenschutz also nicht, sondern er sichere die Versorgung mit hochwertigem Obst.

„Pflanzenschutz sichert die Ernährung von etwa 2,3 Milliarden Menschen“

„Fundierteres Wissen über den Apfelanbau im speziellen und dem modernen Pflanzenschutz im Allgemeinen würde den Fall für viele Laien transparenter machen“, sagt Tiedemann. „Die Gründe, wofür der chemische Pflanzenschutz eigentlich gut ist, werden in Medienberichten weitgehend ausgeblendet. Zudem verfolge ich seit vielen Jahren mit Erstaunen wie sich die Berichterstattung über Pflanzenschutz von der Faktenlage immer weiter entfernt. Ich habe noch nicht verstanden, warum viele Journalisten ein Interesse daran haben, so an der Realität vorbeizuschreiben. Um es an einer markanten Kennzahl zu erläutern: Der Pflanzenschutz sichert derzeit als Technologie alleine die Ernährung von etwa 2,3 Milliarden Menschen. Anders ausgedrückt: Würde dieser Schutz unserer Nahrungspflanzen von heute auf morgen entfallen, stiege die derzeitige Hungerrate von 9 auf 38 Prozent.“ Gerade der Apfelanbau sei sehr pflanzenschutzintensiv, also: ohne Pflanzenschutz kein Apfelanbau, so Tiedemann.

Leider sei der Apfel für zahlreiche Schädlinge und vor allem Pilzkrankheiten besonders attraktiv, was im Erwerbsobstbau zu mehr als 20 Behandlungen in der Saison führe. „Das ist kein Südtiroler Problem, sondern Stand der Dinge in allen Apfelanbauregionen Europas, ja weltweit. Es ist auch kein Phänomen allein des konventionellen Anbaus, vielmehr kämpft der Bio-Anbau mit noch häufigeren weil weniger wirksamen Spritzungen, aber dafür umweltschädlicheren Pflanzenschutzmitteln gegen die gleichen Probleme“, erklärt Tiedemann. „Wenn ein Umweltinstitut seriös wäre, müsste es zuerst fragen, warum im Apfelanbau der schädlichere Bio-Pflanzenschutz und nicht der umweltfreundliche moderne Pflanzenschutz praktiziert wird.“

Blicken wir in die landwirtschaftliche Zukunft: In der Gesamtheit ist eine Kombination aus chemischen, nicht-chemischen, vorbeugenden und direkten Schädlingsbekämpfungsverfahren denkbar - ein Weg, den der integrierte Pflanzenschutz laut Tiedemann schon seit vielen Jahren geht. „Er setzt allerdings voraus, dass alternative Komponenten vorhanden und auch ausreichend wirksam sind“, erklärt der Wissenschaftler. „Genau das ist aber das Problem bei den biologischen Verfahren. Nur ein Beispiel: In Deutschland gibt es in der Forst- und Landwirtschaft einschließlich Gartenbau ca. 5.600 Indikationen, also mögliche Pflanzenschutzanwendungsfälle. Für nur etwa 50 davon bestehen zugelassene biologische Bekämpfungsverfahren, das sind weniger als 1 Prozent. Das zeigt in etwa die Dimension auf, wenn wir vom möglichen Ersatz chemischer durch biologische Verfahren reden. Aus der Forschung kann ich berichten, dass die Pipeline für zukünftige biologische Verfahren nicht üppig gefüllt ist, auch wenn man danach jetzt sehr intensiv sucht. Wir werden den chemischen Pflanzenschutz also weiter brauchen.“

Sara Wegener

VOX News Südtirol / sar