Landesgesetz in Gefahr?

Rom wird Gesetz anfechten, keine Auswirkungen vorerst

Italiens Regionenminister Francesco Boccia hatte bereits bei seinem Besuch in Bozen am Montag dieser Woche klargestellt, einen Südtiroler Alleingang aus dem italienweiten von Ministerpräsident Giuseppe Conte verordneten Corona-Lockdown wird es nicht gegeben. Und so kam gestern, nach der Veröffentlichung des befreienden und sehnlichst von den Südtirolern erwarteten Landesgesetzes zur Aufhebung zahlreicher Verbote unternehmerischer und privater Freiheiten, auch eine entsprechende schriftliche Beanstandung aus Rom, in welcher Regionenminister Boccia ankündigt rechtliche Schritte gegen das Landesgesetz einleiten zu wollen. Die Rute ist somit ins Fenster von Landeshauptmann Arno Kompatscher gestellt. Doch kann Rom wirklich ein vom Südtiroler Landtag beschlossenes Landesgesetz aufheben?

Links: Laurin-Brunnen am Silvius-Magnago-Platz in Bozen, der "germanische" Held Dietrich von Bern bezwingt König Laurin im Kampfe, rechts (Tiroler) Adler und unten Bildmitte Regionenminister Francesco Boccia

Ja, Rom kann natürlich ein regionales- bzw. ein landeseigenes Gesetz anfechten. Aber nicht so schnell ... Italien ist trotz der nahezu diktatorischen Notstandsverordnungen und Gesetzesdekrete von Ministerpräsident Giuseppe Conte, welche zur Eindämmung und Verbreitung der Coronavirus-Pandemie in Italien erlassen wurden, ein Rechtsstaat. Zudem steht auf Südtiroler Seite ein von einem rechtmäßig gewählten parlamentarischen Organ, dem Südtiroler Landtag, mehrheitlich verabschiedetes und in Kraft gesetztes Landesgesetz, das somit auch als politisch legitimer Ausdruck der gesamten Südtiroler Bevölkerung anzusehen ist, den von einem einzigen Mann in Italien - Ministerpräsident Conte - vorordneten Notstandsdekreten und Erlassgesetzen gegenüber. 

Schon lange stellt sich ganz grundsätzlich und unabhängig von Südtirols eigenständigem Weg aus dem Corona-Lockdown die Frage, ob überhaupt Ministerpräsident Giuseppe Conte befugt ist, über Notstandverordnungen und Erlasse, grundsätzliche von der Verfassung garantierte Freiheiten, wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht auf freie Religionsausübung, das Recht auf Schule und Bildung, das Recht auf Bewegungsfreiheit etc. aufzuheben. In anderen EU-Ländern, wie zum Beispiel der Tschechischen Republik, haben Gerichte die von einer einzelnen Person (Ministerpräsident und Gesundheitsminister) erlassenen Notstandverordnungen für illegal befunden und darauf verwiesen, dass ohne parlamentarisch verabschiedetes Gesetz grundsätzliche Freiheiten nicht einfach so aufgehoben werden können.

In der Tat ist Ministerpräsident Giuseppe Conte für sein Handeln mehrfach von Anwälten und Politikern angezeigt worden. Der in Italien hochangesehene emeritierte Verfassungsrichter und Topjurist Sabino Cassese hat Conte bereits Mitte April in einem Interview mit der Tageszeitung "Il Dubbio" mit harten Vorwürfen konfrontiert und die Gültigkeit der Verordnungen und Notstandsgesetze des italienischen Ministerpräsidenten, der selbst Rechtsanwalt ist, regelrecht juristisch ins Nichts zerlegt.

"Eine Pandemie ist kein Krieg. Daher könne man auch nicht auf den Artikel 78 (Anm. d. Redaktion: Ausrufung des Kriegszustandes) der Verfassung zurückgreifen", erklärte Cassese. Der emeritierte Verfassungsrichter geht noch weiter und beschuldigt Conte über seine Verordnungen und Notstandsgesetze gar für einen Staatsstreich, also einen Putsch, verantwortlich zu sein.

Schützenhilfe für Cassese kam auch von der Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichtshofes Marta Cartabia. In ihrem Ende April veröffentlichten Jahresbericht für das Tätigkeitsjahr 2019 baute sie eine beachtenswerte Passage ein. Nicht direkt angesprochen, aber dem Verständnis nach mit Tönen zwischen den Zeilen an Conte gerichtet, hielt die oberste Verfassungsrichterin in ihrem Bericht fest, dass die Verfassung "ein Kompass" sei und "keine Sonderrechte" ermöglichen würde.

"Die vollständige Umsetzung der Verfassung erfordert ein kollektives Engagement, mit aktiver und loyaler Zusammenarbeit aller Institutionen, einschließlich des Parlamentes, der Regierung, der Regionen und der Richter. Diese Zusammenarbeit ist auch der Schlüssel zur Bewältigung des Notfalls. Die Verfassung sieht in der Tat kein Sonderrecht für außerordentliche Zeiten und somit für eine bewusste Entscheidung, sondern sie bietet auch den Kompass, um in Krisenzeiten auf offener See zu navigieren, ausgehend von der loyalen Zusammenarbeit zwischen den Institutionen, was als institutioneller Schutz der Solidarität unter den Bürgern zu verstehen ist", schreibt die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofes.

Boccia: "Betriebe, die vor dem 18. Mai öffnen haften selbst"

Nun zu Südtirol und zur angekündigten Anfechtung des Südtiroler Landesgesetzes durch die italienische Regierung.

Zunächst muss festgehalten werden, dass Medienberichten zufolge die Anfechtung nur den arbeitsrechtlichen Teil des Landesgesetzes betreffen soll. Konkret ist jener Teil gemeint, der die Geschäftsöffnungen erlaubt, ohne die staatlichen Richtlinien zur Arbeitssicherheit abzuwarten. Laut RAI Südtirol habe sich Regionenminister Francesco Boccia in seiner E-Mail an den Landeshauptmann positiv dafür ausgesprochen, dass, auch als Zeichen großer Verantwortung, die bisherigen staatlichen Richtlinien ins Landesgesetz aufgenommen wurden. Jedoch, dass Bozen beschlossen habe, einige Handelstätigkeiten wieder aufzunehmen, ohne die staatlichen Richtlinien für die Arbeit abzuwarten, die in diesen Tagen derzeit vom wissenschaftlich-technischen Beraterkomitee auf Vorschlag des staatlichen Versicherungsinstitutes gegen Arbeitsunfälle INAIL ausgearbeitet werden, sei nicht akzeptabel. "Die Regierung kann daher nicht anders und muss die Maßnahmen anfechten, beschränkt auf den Teil zur Arbeitssicherheit", schreibt Boccia in seiner Nachricht an Landeshauptmann Kompatscher. Erst bei der gestrigen Staat-Regionenkonferenz haben sich laut Boccia alle Regionen verpflichtet, diese Richtlinien einzuhalten.

RAI Südtirol zitiert Minister Boccia weiters: "Handelstreibende, Arbeiter und Kunden hätten ein Recht darauf, dass ihre Gesundheit anhand wissenschaftlicher fundierter Vorschriften des Gesundheitsministeriums garantiert wird", so Minister Boccia in seinem Schreiben. Die Regierung sei, so Boccia, auch für eine schrittweise Öffnung, aber die Regierung sei auch der Auffassung, dass die von ihr immer respektierte Autonomie, im Rahmen "universeller Werte und Rechte der Verfassung ausgeübt werden müsse". Die Gesundheit würde dabei jedoch an erster Stelle stehen. Boccia erinnert Kompatscher auch daran, dass in Italien aufgrund der Pandemie noch immer der Notstand gelten würde. Und er verweist auch daraufhin, dass die Regierung regional unterschiedliche Maßnahmen der Öffnung erst ab 18. Mai erlauben würde. Betriebe, die vor dem 18. Mai aufmachen, würden somit – so Boccia – die volle Verantwortung übernehmen und im Notfall selbst haften.

Wie wird das Südtiroler Landesgesetz angefochten?

Das Landesgesetz muss vor dem Verfassungsgericht angefochten werden. Zuvor muss der Ministerrat die Anfechtung jedoch beschließen, wovon aber auszugehen ist. Im Anschluss muss der Ministerrat vor dem Verfassungsgerichtshof eine Verfassungsklage gegen das Landesgesetz einreichen. Das Land Südtirol hat anschließend 20 Tage Zeit sich in das Verfahren einzulassen. Stellt der Ministerrat in seiner Klageschrift Antrag auf vorübergehende Aussetzung des Landesgesetzes muss dieser "Gefahr im Verzug" geltend machen. Nur wenn die Verfassungsrichter die Gefahr im Verzug bestätigt sehen, können diese das Landesgesetz vorübergehend aussetzen, aber frühestens 20 Tage nach Hinterlegung der Anfechtung. Anschließend beschäftigt sich der Verfassungsgericht in einem langwierigen und über Monate dauernden Verfahren mit der Verfassungsklage durch den Ministerrat. Erst wenn das Verfassungsgericht die Beschwerde und die Anträge des Ministerrates annimmt, wird mit Urteil zu Ungunsten der Autonomen Provinz Bozen das Landesgesetz endgültig außer Kraft gesetzt.

Bis dies der Fall sein könnte ist es aber noch ein langer Weg, die Corona-Pandemie möglicherweise längst schon überwunden und auch Italien wieder in der Normalität und nicht mehr im Notstandsmodus. Überhaupt ist das gesamte Aussetzungsverfahren vor dem Verfassungsgerichtshof fraglich, denn das Landesgesetz hat selbst nur eine zeitlich befristete Gültigkeit. Bis ein Urteil vorliegt, könnte das Landesgesetz seine Gültigkeit bereits selbst und von alleine eingebüßt haben. Und noch etwas: Es ist überhaupt nicht gesagt, dass das Land Südtirol das Verfahren vor dem Verfassungsgericht verlieren wird. Eben vielleicht auch gerade deswegen, weil die Präsidentin des italienischen Verfassungsgerichtshofes bereits gegenüber Ministerpräsident Conte ganz grundsätzlich und im Allgemeinen auf die Einhaltung der Verfassung ("Die Verfassung ist ein Kompass und ermöglicht keine Sonderrechte") hingewiesen hat. Somit bleiben die Lockerungen im Südtiroler Landesgesetz vorerst gültig und der Tiroler Adler kann mit Einschränkungen und Sicherheitsauflagen wieder fliegen – losgelöst von Rom, aber sicher auch zum Ärger aller anderer Regionen in Italien.

VOX News Südtirol / ts