Unsicherheit und viele Fragen

Offener Brief eines Vaters zum Schulstart

Manuel Grandegger hat der Redaktion von VOX News Südtirol einen von ihm verfassten Brief zugespielt, der an die Landesschuldirektion adressiert ist. Der Vater eines Grund- und eines Oberschülers ist Heimleiter eines Schülerheimes sowie Elternvertreter und Schulratspräsident einer Schule. In Anbetracht des bevorstehenden Schulstarts, der anders ist als jemals zuvor, ist er voller Fragen und macht sich Sorgen um die Zukunft unserer Kinder.

VOX News Südtirol gibt den Manuel Grandeggers Brief in originalem Wortlaut wieder:

"(...) Ich schreibe diesen Brief als Privatperson und Vater. In wenigen Tagen beginnt das neue Schuljahr, ein Schuljahr voller Unsicherheit und offener Fragen. Ein Schuljahr, das alle vor die größte Herausforderung seit Ende des Zweiten Weltkrieges stellt. Und doch hat man das Gefühl, dass viele Verantwortliche „nur“ an den Schutz der körperlichen Gesundheit denken, aber nicht weiter. Geht es im Bildungssystem nicht um mehr? Sollte man in einem Land, wie Südtirol nicht an mehr denken? Vor allem von einer Landesschuldirektorin erwartet man sich, dass sie dies tun würde. Nichtsdestotrotz möchte ich kundtun, welche Fragen noch nicht geklärt sind und man schon vor einigen Monaten hätte klären sollen:

  • Wie definiert man, im Zusammenhang mit dem Fernunterricht, Bildungsgleichheit? Haben alle SchülerInnen Zugang zu einem Computer? Haben alle SchülerInnen Zugang zu schnellem Internet? Und wie es in einigen Familien der Fall ist, müssen mehrere Personen gleichzeitig das Internet benutzen. Home Office und Home Schooling gleichzeitig wird nicht funktionieren und das weiß ich aus eigener Erfahrung. Es müssen wieder die Eltern herhalten. Hat man über langfristige Folgen nachgedacht? Auch ein teilweiser Fernunterricht widerspricht in meinen Augen das Recht auf Bildung und die Bildungsgleichheit – die Erfahrung des Frühjahres hat es uns gezeigt.
  • Wie wird es mit der Aufsichtspflicht gehandhabt? Wenn beide Eltern (nicht im Home Office) arbeiten müssen und man einen minderjährigen Oberschüler alleine zu Hause lassen muss, wer übernimmt die Verantwortung? Auch wenn man den OberschülerInnen eine gewisse Verantwortung geben kann, möchte ich gerne von einer Rechtsperson bestätigt haben, dass dies nicht unter unterlassen Aufsichtspflicht fällt.
  • Wie sieht es mit den gestaffelten Ein- und Austritten aus? Hat man dort auch in Betracht gezogen, dass vielleicht die Arbeitgeber nicht überall mitspielen (können)?
  • Wie wird es heuer gehandhabt mit dem "Sitzenbleiben" bzw. Weiterkommen? Werden SchülerInnen durchgeschoben? Wie sieht es langfristig mit dem Bildungsrückstand aus? Ist man sich bewusst, dass die SchülerInnen nicht auf einem gleichen Stand sein können und durch eventuellen Fernunterricht dieser auch für dieses Schuljahr nicht gegeben sein wird?
  • Ist man sich dessen bewusst, dass man bei all den Überlegungen zur Gesundheit (was auch richtig und wichtig ist!), sich keineswegs über die Psyche der Kinder und Jugendlichen Gedanken gemacht hat? Kinder und Jugendliche wurden bei all den Überlegungen in Bozen und Rom, trotz meines Warnhinweises an Dr. Falkensteiner und LR Achammer von vor einigen Monaten, nicht berücksichtigt. Wir haben so oder so in den Wintermonaten mit zunehmenden depressiven Phasen zu rechnen, was wird erst aus den Kindern und Jugendlichen? Wird hier an die langfristigen Folgen gedacht? Bei Jugendlichen kann auch übermäßiger Konsum von legalen und illegalen Drogen hinzukommen. Und wenn wir uns Sportunterricht ansehen oder die außerschulischen sportlichen Veranstaltungen, möchten wir riskieren, in einer Gesellschaft zu leben, die noch mehr übergewichtige Kinder hervorbringt, eine Erscheinung der modernen Gesellschaft? Oder, wies z.B. auch bei einem meiner Söhne der Fall war, dem ein sog. Sportlerherz diagnostiziert wurde, was darauf zurückzuführen ist, wenn das Training von einem Moment auf den anderen unterbrochen wird. Wie sieht es mit den psychischen Belastungen der Eltern aus? Hat man auch daran gedacht, dass, trotz Arbeit, wieder alles an ihnen hängen bleibt? Die Eltern sind einfach stuff von dieser Situation und möchten, dass eine „Normalität“ wieder einkehrt. Nicht nur für sich, sondern auch für die Kinder. Sie haben heuer so viel geleistet, trotz der Krisensituation.
  • Ist bei all diesen Überlegungen auch daran gedacht worden, dass wir eine Generation hervorbringen, die einen Bildungsrückstand aufweist, die in 20-30 Jahren unsere behandelnden Ärzte sind, Politiker, die uns regieren oder, verzeihen Sie meinen saloppen Ausdruck, uns im Altersheim den Hintern abwischen? Wir steuern auf so eine Generation zu – ohne auch nur ansatzweise Versuche zu unternehmen dem entgegen zu wirken. Durch Fernunterricht und Stundenkürzungen werden wir dem nicht entgegenwirken können. Wir gehören zu einem modernen Land, das eigentlich Talente hervorbringen sollte und haben Mangel an Fachkräften. Dies ist bereits jetzt der Fall, wie sieht es unter diesen Umständen langfristig aus? Wie kann man da im Schulamt auch nur ansatzweise von „Normalität“ sprechen?
  • Wie stellt man sich eigentlich das sog. eigenständige Lernen vor? Jeder, der die Thematik kennt, weiß, dass ein eigenständiges Lernen ein jahrelanger Prozess ist und vor allem bei Schulanfängern oder Volksschülern kann man das nicht verlangen. Ich selbst habe SchülerInnen, die in der 5. Klasse Oberschule dies noch nicht können, wie sollen Kinder und Jugendliche dies von einem Moment auf den anderen können? Auch das eigenständige Lernen ist ein Lernprozess. Eltern müssten wieder als Lehrpersonen herhalten, kennen ab einer gewissen Schulstufe die Inhalte nicht und sollen die Kinder unterstützen, neben Vollzeitjob (wie so oft bei beiden Elternteilen), neben Haushalt und neben all den anderen Verpflichtungen. Wollt ihr die Eltern ausbrennen lassen? Zumindest wäre die Arbeit auch für die Psychologen somit gesichert, die bereits jetzt teilweise überlaufen sind. Und ich möchte hervorheben, dass ich die Arbeit der Psychologen schätze und für sehr wichtig halte.
  • In der Schule muss jegliche Art von Kontakt vermieden werden (aus gesundheitlicher Sicht absolut wichtig und richtig!), allerdings sehe ich die Situation ähnlich, wie in den Altenheimen; wie soll ein pädagogisch-erzieherischer bzw. sozialer Beruf auf Distanz funktionieren? Was macht das mit unseren Kindern? Hat man hier psychologisch diesen Umstand bereits analysiert?
  • Gibt es eigentlichen einen Plan B? Was soll langfristig passieren, sollte es keine Lösung für das Virus geben? Wollen wir über Jahre so weiter machen? Oder gibt es nicht einmal einen Plan A?
  • Wie hat man sich eigentlich die Nachmittagsbetreuung vorgestellt? Hätte man sich erwartet, dass, aufgrund von Corona, niemand mehr arbeiten geht oder die Arbeitgeber gütig den Eltern entgegenkommen? Warum hat man das Gefühl, dass die Verantwortlichen überrascht sind, warum das Angebot trotzdem so viel genutzt wird? Wer vielleicht bis zu 9 Wochen im Lohnausgleich war, muss und möchte wieder arbeiten gehen – aber wohin mit den Kindern? Mir ist bewusst, dass die Schule kein "Kinderparkplatz" ist, aber Eltern haben sich vor einem, zwei oder mehr Jahren für eine Schule und deren Angebot entschieden, da man es auf das Leben der Eltern anpassen wollte. Warum vergisst man wiederum die Familien und Eltern (wie bereits im Frühjahr)? Ich stelle mir die Frage, ob Frau Dr. Falkensteiner vielleicht die Kinder dann am Nachmittag betreut, nachdem, lt. ihren Aussagen, sich die Eltern organisieren müssten? Kommt Frau Dr. Falkensteiner für die Spesen auf – sowohl psychologisch als auch betreuungstechnisch?

Wie sieht also die Zukunft unserer Kinder und letztendlich aus? Düster, sehr düster würde ich sagen. Wir sollten gemeinsam für die Kinder und Jugendlichen kämpfen, nicht gegen sie arbeiten und sie nach Protokoll abstempeln. Ich möchte noch einmal festhalten, dass es auch mir um den Schutz der Gesundheit geht, aber bei Kindern und Jugendlichen geht es um viel mehr. Darüber hätte man sich in den vergangenen Monaten Gedanken machen können. Hat aber (in meinen Augen) nicht stattgefunden. Ich habe im Frühjahr viele niedergeschlagene Jugendliche gesehen, die verzweifelt waren und Tränen vergossen haben, da sie mit der Situation (wie so viele andere) einfach überfordert waren und allein gelassen wurden. Einige Maturanten sprachen schon von der Coronamatura und Coronageneration und weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem möchte ich bezüglich der Umfrage über den Fernunterricht Winston Churchill zitieren: „Ich glaube nur einer Statistik, die ich selbst gefälscht habe...“ Die Meinungen, die ich gehört habe und die Erfahrungen im Fernunterricht meiner Kinder sprechen, trotz der vielen Bemühungen der Lehrpersonen, eine andere Sprache. Dies ist eine Tatsache, der man sich im Schulamt bewusst sein sollte.

Aber jetzt wird sich der ein oder andere denken, kritisieren ist gut, aber was gibt es für Lösungsvorschläge.

  • Kinder und Jugendlichen sind schon sehr weit und verantwortungsbewusst (meistens), um sie mit den Hygienemaßnahmen vertraut zu machen. Man muss ich aber auch dessen bewusst sein, dass Kinder Panik in den Masken bekommen (sehe ich bei einem meiner Kinder), dass sie auch ohnmächtig werden können und dass dies somit heißt, man muss gemeinsam nach Alternativen suchen.
  • Miteinziehen von Psychologen, die die Lehrpersonen/Erzieher auf diverse Situationen vorbereiten und trotz Abstand dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen nicht allein gelassen werden.
  • Zusammenarbeit mit Arbeitsmedizinern, um Maßnahmen festzulegen, die alle Beteiligten schützen, auch wenn die Distanz nicht eingehalten werden kann.
  • Kommunizieren, dass SchülerInnen, die eventuell positiv sind, keine Aussätzige sind, wie zumindest mein Eindruck oft ist.
  • Langfristige Pläne machen, was passiert, sollten wir das Virus nicht in den Griff bekommen, der sog. Plan B. Hier möchte ich niemandem etwas unterstellen, denn es kann auch sein, dass dies bereits in Ausarbeitung ist, nur noch nicht an die Öffentlichkeit gelangte.
  • Weniger Panik verbreiten, vor allem bei den Kindern und Jugendlichen. Mir ist bewusst, dass die Situation für uns alle, ja für die ganze Welt außerordentlich und außergewöhnlich war und sicher immer noch mehrere Baustellen gibt. Aber Sanität und Bildung sind meiner Meinung das wichtigste für die Zukunft eines Landes. Und bevor jetzt jemand auf die Barrikaden geht, ich sage damit nicht, dass alle anderen Wirtschaftszweige uninteressant sind, dem möchte ich widersprechen, es bringt aber nichts, wenn wir bei Sanität und Bildung sparen, denn dann haben wir unausgebildete, kranke Erwachsene in ein paar Jahren.
  • Miteinziehen von allen Beteiligten in die Diskussionen, Pädagogen, Psychologen, Schulführungskräfte, Wirtschafts- und Arbeitgebervertreter und sicherlich nicht zu vergessen, Ärzte und Virologen. Und hier gilt es einen Kompromiss zu finden. Dies hätte man allerdings früher machen sollen.

Ich habe bis zum Schluss immer gehofft, Südtirol wird sich anders verhalten als Rom. Zum Teil stimmt dies ja. Doch mir fehlt halt immer das Denken an die langfristigen Folgen im Bildungsbereich. Vor dem Sommer hatte ich die Hoffnung, dass sich eine Geschichte, wie in Rom, nicht wiederholt, sondern dass man wirklich auch den psychologischen Aspekt mit einbezieht. Lucia kommt aus einem schulischen Hintergrund und man hätte sich erwarten können, dass sie eigentlich weiß, auf was es ankommt. Und wir? Wir haben Philipp, der so viel Schadensbegrenzung wie möglich macht und viel Druck auf den Schultern hat von den Eltern, die ein erneutes Chaos, wie im Frühjahr nicht mehr akzeptieren, und somit probiert sein bestes gibt; und wir haben „unsere“ Lucia – die Sigrun."

VOX News Südtirol / ja