Roman Protassewitsch befand sich auf einem Flug zwischen den EU-Mitgliedsstaaten Griechenland und Litauen. Bei einer erzwungenen Zwischenlandung in Minsk wurde er festgenommen. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Belta berichtet, war ein weissrussischer Kampfjet aufgestiegen und hatte die Passagiermaschine über weißrussischem Staatsgebiet abgefangen und zur Landung in der Hauptstadt Minsk gezwungen.
Staatspräsident Alexander Lukaschenko selbst habe dies angeordnet, mit der Begründung, es habe eine Meldung über explosive Stoffe an Bord gegeben. Die belarussische Präsidentschaft erklärte, dass ein Kampfflugzeug vom Typ MiG-29 aufgestiegen sei, um das Flugzeug der Gesellschaft Ryanair mit dem Oppositionellen an Bord abzufangen. Flughafensprecher teilten in Staatsmedien mit, dass die Piloten der Passagiermaschine um die Landeerlaubnis gebeten hätten.
Die Fluglinie Ryanair teilte mit, die Besatzung des Fluges sei von weißrussischer Seite über eine mögliche Sicherheitsbedrohung an Bord in Kenntnis gesetzt und angewiesen worden, zum nächstgelegenen Flughafen in Minsk zu fliegen.
Tadeusz Giczan, der Chefredakteur der weißrussischen Oppositionsplattform Nechta (russisch Нехта), für die auch Protassewitch gearbeitet hatte, veröffentlichte bei Twitter Fotos und Aussagen von Mitreisenden des Regimekritikers. Die Maschine sei sicher gelandet und alle Passagiere mussten das Flugzeug verlassen. Mithilfe von Spürhunden sei das Gepäck aller Mitreisenden kontrolliert worden, berichtet Giczan unter Berufung auf den Sitznachbarn Protassewitschs. Dieser sei zunächst beiseite geführt worden. Sein Gepäck wurde auf die Landebahn geworfen. Auf die Frage von Mitreisenden, was los sei, habe Protassewitsch geantwortet: "Sie werden mich hier hinrichten." Er habe die ganze Zeit gezittert. Kurz darauf hätten Soldaten Protassewitsch abgeführt. Sein aktueller Aufenthaltsort sei unbekannt.
Laut den Informationen Giczans befanden sich weißrussische KGB-Agenten seit dem Start in Athen an Bord der Ryanair-Maschine. Bereits vor dem Boarding sei Protassewitsch aufgefallen, dass er beobachtet und fotografiert worden sei. Die Agenten hätten im Luftraum über Belarus wegen eines angeblichen Bombenalarms eine Auseinandersetzung mit der Crew angezettelt und diese dazu gebracht, SOS zu funken. Anderen Berichten zufolge hatte die weißrussische Flugsicherung die Besatzung alarmiert. Ein Kampfflugzeug des weißrussischen Militärs war aufgestiegen und hatte das Flugzeug abgefangen und bis zur Landung in Minsk begleitet. Als die Passagiere von Bord gegangen waren, wurden von den lokalen Behörden Sicherheitsüberprüfungen im Flugzeug vorgenommen. Dabei sei nichts Ungewöhnliches gefunden worden. Die Behörden hätten daraufhin genehmigt, dass das Flugzeug wieder zusammen mit Passagieren und Crew starten könne.
Die weißrussische Oppositionsplattform Nechta (russisch Нехта) auf dem Messaging-Dienst Telegram gehört zu den wichtigsten Informationsquellen der Opposition in Belarus. Nach den Massenprotesten gegen Lukaschenko im vergangenen Jahr war der 26-Jährige Oppositionelle und Blogger Roman Protassewitsch zur Fahndung ausgeschrieben worden. Die ebenfalls im Exil lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja prangerte die Festnahme ihres Mitstreiters an. Die Regierung von Belarus habe die Landung der Maschine mit Protassewitsch an Bord "erzwungen", schrieb sie auf Twitter. Belarus habe für die Festnahme die Sicherheit der Passagiere und der Zivilluftfahrt aufs Spiel gesetzt. Protassewitsch drohe nun die Todesstrafe in seinem Heimatland.
Der litauische Präsident Gitanas Nauseda protestierte gegen die erzwungene Zwischenlandung und Protassewitschs Festnahme. "Das ist ein nie dagewesener Vorfall (...) Das Regime von Belarus steht hinter dieser abscheulichen Aktion", schrieb er auf Twitter. Nauseda forderte die Verbündeten Litauens in der EU und der NATO zu umgehenden Reaktionen auf.
Das griechische Außenministerium erklärte, "Griechenland verurteilt den Akt staatlicher Luftpiraterie", der zur Umleitung und Notlandung des Ryanair-Flugszeugs führte. Protassewitsch sei in Griechenland Teil einer Delegation gewesen, die vorvergangene Woche am internationalen griechischen "Delphi-Forum" teilgenommen habe. Das Delphi-Forum lädt jedes Jahr internationale Fachleute und Politiker zur Diskussion über politische und wirtschaftliche Themen ein. "Wir sind der Ansicht, dass solche Praktiken, die aus einer anderen Zeit stammen und sich für keinen zivilisierten Staat gehören, nicht unbeantwortet bleiben dürfen", hieß es abschließend in der Mitteilung des Ministeriums.
Die EU-Spitzen kritisierten die Vorgänge in Minsk scharf. "Es ist absolut inakzeptabel, den Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius zu zwingen, in Minsk zu landen", schrieb EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf Twitter. Verletzungen der internationalen Luftverkehrsregeln müssten Konsequenzen haben. EU-Ratschef Charles Michel schrieb auf Twitter, es müsse Untersuchungen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation geben. Der Belgier forderte wie auch EU-Parlamentspräsident David Sassoli die belarussischen Behörden dazu auf, alle Passagiere unverzüglich freizulassen.
Die Staats- und Regierungschefs der EU werden auf ihrem Gipfeltreffen heute über eine Verschärfung der Sanktionen gegen Belarus beraten. Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bezeichnete die erzwungene Zwischenlandung als "ernsten und gefährlichen Vorfall". Dieser erfordere eine "internationale Untersuchung".
Lukaschenko regiert Belarus seit 1994. Im vergangenen Jahr hatte er Massenproteste gegen seine offizielle Wiederwahl im August gewaltsam niederschlagen lassen. Menschenrechtsgruppen zufolge nahmen die Behörden seitdem rund 35.000 Personen fest. Behördenangaben zufolge wurden mehr als 1000 Gerichtsverfahren gegen Protestteilnehmer eröffnet.