"Eine Schande für Südtirol"

Der inhumane Umgang mit Zivilinvaliden in Südtirol

"Es ist eine Schande für Südtirol", sagt die Mutter einer Langzeitkranken, die sich mit ihrer elendlichen Geschichte an unsere Redaktion gewandt hat. Dass die Vergütungen und Vergünstigungen für Zivilinvaliden nicht gerade hoch sind, ist gemeinhin bekannt, wie das aber in der Realität der Betroffenen aussieht, steht auf einem ganz anderen Blatt. "Es ist ein Hohn und ein Spott", sagt die Mutter von Sabine Raiffeiner, "da nutzt es auch nichts, nach außen hin gut dastehen zu wollen." Südtirol außen Hui, innen Pfui also? Warum über diese Missstände nie berichtet wird, fragt sich die Patientin, und warum Betroffene mit ihrem Problem so alleine gelassen werden, von der Gesundheitsvorsorge, der Sanität, der Politik, den Medien und der Gesellschaft. Wir erzählen die ganze Geschichte und ihre Hintergründe.

Fibromyalgie, eine noch wenig erforschte Krankheit. Schmerzen, die zur Zivilinvalidität führen.

Sabine Raffeiner (Anm. d. R.: Person und Name der Redaktion bekannt, Name geändert) ist 48 Jahre alt. Vor zwei Jahren wurde bei ihr "Fibromyalgie" diagnostiziert, eine unheilbare Schmerzerkrankung, deren genaue Ursachen noch unbekannt sind - Forschung läuft auf Hochtouren. Von der WHO wurde die Krankheit als invalidisierend eingestuft. Dr. Franz Ploner, ehemaliger Leiter des Krankenhauses Sterzing und Schmerztherapeut, beschreibt die Krankheit als komplex und in ihrer Auswirkung auf den Alltag von Fall zu Fall unterschiedlich.

"Ich denke, dass niemand nachvollziehen kann, wie ein Leben mit dieser Krankheit ist, es sei denn, man hat sie selbst. Es sind Dauerschmerzen in Gelenken, Sehnen und Muskeln, als würde jemand ein dickes Seil durch den Körper ziehen", so beschreibt es Sabine Raffeiner, "und zwar kontinuierlich. Die Medikamente, die ich nehme, machen mich gelassener, und lassen mich deshalb die Schmerzen weniger spüren, aber sie sind immer da. Leider machen die Medikamente abhängig und man bräuchte immer mehr, um damit einen Effekt zu erzielen. Ein Arzt hat einmal zu mir gesagt, ich solle mich damit abfinden, dass ich nie wieder einen richtig guten (schmerzfreien) Tag haben werde. Das klingt nicht gerade euphorisch." Als bei ihr von einem Facharzt, einem Rheumatologen, die Krankheit diagnostiziert wurde, war sie "paff", war sie doch körperlich immer sehr aktiv, agil, sportlich, ehrgeizig. Entsprechend lange hat es deshalb gedauert, bis ihr klar wurde, dass ihr Körper ihr nicht mehr gehorcht und dass sie viele Dinge, die sie gerne tun würde, nicht mehr tun kann.

"Was die Krankheit zusätzlich zum Problem macht, ist die erhöhte Sensibilität gegenüber allen Dingen. Wenn jemand normal spricht, aber mit etwas lauter Stimme, dröhnt es durch meinen ganzen Körper und innerhalb kurzer Zeit bin ich sehr gestresst und total am Boden. Hitze ist zu extrem und Kälte ebenso und beides verschlechtert die Krankheit. Unruhiger Straßenverkehr versetzt mich extrem unter Stress. Oft ist es schon zuviel, mit einem Menschen zu sprechen, und ich kann danach nur noch auf der Couch liegen, um mich zu erholen", erzählt Raffeiner. "Als schlimm empfinde ich auch das Grippegefühl, das mit der Krankheit zusammenhängt. Ich habe, gerade in Stresssituationen, das Gefühl, richtig krank zu sein, hohes Fieber zu haben, mit Schüttelfrost und Gelenkschmerzen und allem Drum und Dran. Im letzten halben Jahr hatte ich zusätzlich wirklich mehrere Fieberschübe, mit Fieber von 37,5 bis 38 Grad, über mehrere Wochen. Meine Verdauung ist komplett aus dem Gleichgewicht und funktioniert nur noch über Verstopfung und Durchfall. Dazu kamen in der Zwischenzeit, in der Corona-Quarantäne-Höchstzeit, Nierenkoliken, die ich wegen Corona ganz alleine und selbst zuhause auskuriert und den Nierenstein dann auch über die Blase ausgeschieden habe." "Es war schrecklich", sagt die Südtirolerin, "und ich dachte nur noch: jetzt hast du den Vogel abgeschossen, das nächste ist Sterben."

Sabine Raffeiner ist alleinerziehend, seit ihr Sohn, nunmehr 14 Jahre alt, geboren wurde. "Ich bin - oder zumindest war - immer ziemlich schmerzresistent. Mir wurde ohne Betäubung eine Wunde am Bein genäht und ich habe keinen Pieps gemacht. Als ich meinen Sohn bekam und zwölf Stunden in den Wehen lag, habe ich nicht ein einziges Mal den Mund aufgetan, während ich die anderen laut schreien hörte. Aber das, was ich jetzt durchmache, ist einfach zu viel. Wenn ich mein Gefühl beschreiben müsste, da ich gerade eine ganze Woche Migräne zusätzlich hinter mir habe: ich bin tot."

Raffeiner leidet neben der Fibromyalgie an einer chronischen Migräne, mühsame Begleiterin seit Kindheitstagen. "In den letzten Monaten hat sich auch meine Migräne wieder verschlechtert, d.h. ich habe bis zu zwei Anfällen in der Woche, die oft nur einen, manchmal auch zwei bis drei Tage dauern. In diesen Fällen ist es manchmal so, dass die Migränemedikamente Triptane in oraler oder subkutaner Form nicht mehr wirken und nur mit zusätzlicher Medikation von Cortison einigermaßen in den Griff zu bekommen ist", sagt die Werbetexterin. "Mein Alltag heißt also: Dauerschmerzen, so oder so. Morgens kann ich oft gar nicht Aufstehen und muss froh sei, wenn die Medikamente irgendwann wirken und ich doch noch Aufstehen kann. Wenn nicht, dann nicht. Mein Sohn braucht mich zum Glück nicht mehr so für die täglichen Arbeiten im Haus. Ich habe eine Freundin, die ich bezahle, damit sie einmal wöchentlich zum Aufräumen und Einkaufen zu mir kommt. Durch die Schmerzen bin ich auch psychisch angeschlagener, natürlich nehme ich Medikamente dagegen."

Ein anderes großes Problem als Konsequenz des gesundheitlichen ist das Finanzielle. "Ich bin alleinerziehend, wirklich allein, und ich bin in diesem Zustand wirklich nicht arbeitsfähig, es sei denn, es wäre egal, wenn ich nur jeden dritten Tag arbeite und dann mit freien Arbeitszeiten. Ich habe keine feste Anstellung (wegen der Corona-Krise verloren). Ich bekomme keine Arbeitslosenunterstützung, da ich bei der vorherigen Firma nur 6 Monate angestellt war. Ich arbeite auf Honorarbasis von zu Hause aus, das Honorar ist aber auf Grund der vielen Tage, an denen ich nicht arbeiten kann, sehr gering. Ich muss allein 100 Euro im Monat für Medikamente ausgeben."

Also wandte sich die 48jährige Frau auf Anraten ihres Patronats an das Amt für Zivilinvalidität, mit zahlreichen Befunden und Attests, u.a. auch von ihrem Facharzt, welcher eindeutig bescheinigt, dass sie durch ihren Gesundheitszustand keiner geregelten Arbeit nachgehen kann. "Das Ansuchen um Anhörung habe ich im Februar gemacht, die Anhörung selbst fand aber erst ein halbes Jahr später statt. Im März wurde ich von einer Sozialassistentin angerufen und befragt, von da bis zur Anhörung ist also auch ein halbes Jahr vergangen, in welchem sich mein Zustand ziemlich verschlechtert hat." Endlich fand der Termin vor der Zivilinvaliditätskommission statt, von welcher ihr daraufhin eine 50prozentige Invalidität bescheinigt wird. "50 Prozent nutzen mir gar nichts, damit habe ich nicht einmal eine Ticketbefreiung. Und auch die Arbeitseingliederung nutzt mir nichts, weil ich momentan in diesem Zustand nicht arbeitsfähig bin. Die Ärztekommission hat mich nicht einmal angehört, ich konnte nichts pieps sagen, dann war ich wieder draußen, mir wurde nicht einmal Gelegenheit gegeben, mich dazu zu äußern, wie es jetzt bei mir ausschaut", sagt Raffeiner. "Es geht mir nicht darum, viel invalid zu sein, sondern darum, überleben zu können, und das ist mit den Bestimmungen, wie sie jetzt sind, unmöglich."

Hier ein kurzes Intermezzo über Zivilinvalidität und das Anrecht auf Leistungen:

  • Bei Erreichung einer Zivilinvalidität von 34 Prozent hat der Patient Anrecht auf prothetische Hilfsmittel.
  • Als anerkannter Zivilinvalide erhält der Patient eine höhere Punktezahl bei Ansuchen um eine Sozialwohnung
  • Bei Erreichung von 46 Prozent und angemessener Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch die Ärztekommission hat der Patient Anrecht auf gezielte Arbeitsvermittlung im Sinne des Gesetzes Nr. 68/1999.
  • Bei einer festgestellten Invalidität von 74 bis 100 Prozent steht dem Patienten eine Rente von 442,35 Euro monatlich zu.

Das sei wohl zum Sterben zu viel und zum Überleben eindeutig zu wenig, wozu sich Eugenio Bizotto, Direktor des Landesamtes für soziale und wirtschaftliche Entwicklung fast schon hochgemut so äußert: "In den restlichen Provinzen Italiens beträgt die Rente im Jahr 2020 für Zivilinvaliden 286,81 Euro. In der Provinz Bozen ist sie mit 442,35 Euro festgesetzt, somit ist sie in Südtirol bereits um 155,54 Euro höher als im restlichen Staatsgebiet" – oh du soziales Heimatland.

Sabine Raffeiner erzählt weiter: "Und habe ich einmal einen Tag, an dem es mir ein bisschen besser geht, bin ich so unendlich glücklich, dass ich die schlechten Tage momentan vergesse, ich bin fast schon überdreht, sodass jeder, der mich sieht (wenn es mir schlecht geht, bin ich zuhause und niemand sieht mich außer meinem Sohn) denkt: Oh, der geht es ja gut, der fehlt bestimmt nix. Von einer Sozialassistentin habe ich auch schon einmal gehört: Die will nur nicht arbeiten! Dazu gibt es wohl nichts mehr zu sagen." 

Wir von VOX NEWS Südtirol haben Dr. Oliver Neeb, Leiter der Ärztekommission für die Zivilinvalidität, zu dem Fall befragt:

  • Welche Rolle spielte das Gespräch mit der Sozialassistentin in der Beurteilung des Invaliditätsgrades und der Arbeitsfähigkeit?
  • Empfinden Sie selbst die Sitzung vom 15.02.2020 als eine "Anhörung"?
  • Ist im Befund der Ärztekommission berücksichtigt worden, dass sich das Telefongespräch mit der Sozialassistentin und der letzte Termin bei Facharzt (aus Gesundheitsgründen) über ein halbes Jahr zurückliegen?
  • Hätte Ihrer Meinung nach nicht eine Überprüfung der aktuellen Situation stattfinden müssen, unter Einbeziehung meiner Darstellungen?
  • Ist der Kommission meine gesamte Lebenslage und die Bewältigung des Alltags bekannt und wird diese in der Beurteilung berücksichtigt?
  • Ist der Kommission bewusst, dass sich eine Krankheit wie die Fibromyalgie individuell unterschiedlich auswirkt? Wurden diese Unterschiede von der Kommission in Betracht gezogen?
  • Worin besteht die Aufgabe der Ärztekommission zur Feststellung des Invaliditätsgrades?

Wir von VOX NEWS Südtirol haben von Dr. Oliver Neeb keine Antwort auf unsere Fragen bekommen, lediglich die E-Mail einer Mitarbeiterin, die auf das Recht des Patienten hinweist, innerhalb von 60 Tagen ab Erhalt des Befundes Rekurs einzulegen zu können.

Der Facharzt von Frau Raffeiner ist skeptisch. "Ich weiß schon, wie es bei der Beurteilung des Invaliditätsgrades vor sich geht, da sind Sie nicht die Einzige, die das so erlebt. Ihr Fall ist halt ein ziemlich trauriger. Sie können es probieren mit dem Rekurs, aber große Hoffnungen mache ich Ihnen nicht. Obwohl die Fibromyalgie von Person zu Person unterschiedlich ausfällt, schaut die Kommission nur die Unterlagen an, was nicht richtig ist, aber es ist halt so. Sie brauchen halt sonst unbedingt jemanden, der Ihnen hilft, finanziell und mit den Arbeiten im Haus."

Gegen den Entscheid der Kommission wird Raffeiner auf jeden Fall Rekurs einlegen, nicht zuletzt deshalb, weil die geforderte angemessene Beurteilung der Arbeitsfähigkeit durch die Ärztekommission tatsächlich nie stattgefunden hat. "Ich muss", sagt sie, auch wenn ihr die Energie dazu fehle. Und sie werde ihren Fall öffentlich machen, denn mit Sicherheit sei sie nicht die Einzige, die auf diese Weise fallen gelassen wird wie ein heißer Erdapfel, mitten durch den sozialen Rost des schönen und reichen Landes Südtirol.

VOX News Südtirol / Kre